Mangelerscheinungen in Altglienicke

TREPTOW-KÖPENICK Schön ist es am südlichen Rand der Stadt. Schön ländlich. Und schön abgelegen. Für viele Menschen, gerade alte, ist das ein Problem: Immer mehr ÄrztInnen wandern ab. Eine, die bleibt, ist Heike Löser

■ Der Ortsteil Altglienicke liegt im äußersten Südosten des Bezirks Treptow-Köpenick. Er grenzt an Adlershof, Bohnsdorf, Grünau, an den Neuköllner Ortsteil Rudow sowie an die Brandenburger Gemeinde Schönefeld. Altglienicke ist 8 Quadratkilometer groß und hat 27.000 Einwohner.

■ Um einen gut erhaltenen historischen Ortskern herum gruppieren sich Siedlungsgebiete mit ländlichem Charakter und vielen Einfamilienhäusern. Architektonisches Highlight ist die Reihenhaussiedlung Gartenstadt Falkenberg, die von 1913 bis 1915 nach Plänen von Bruno Taut entstand. Seit 1987 entstanden auf ehemals landwirtschaftlich genutzter Fläche große Neubaugebiete mit bis zu elfgeschossigen Plattenbauten. Nach der Wende wurden weitere Neubaugebiete gebaut, in denen vor allem Russlanddeutsche angesiedelt wurden.

■ Der Bezirk Treptow-Köpenick zählt 245.000 Einwohner. Er hat mit 8,7 Prozent berlinweit den geringsten Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Die Einwohner sind im Schnitt sehr alt, 25 Prozent der Treptow-Köpenicker haben den 65. Geburtstag schon hinter sich. In Altglienicke sind es sogar 30 Prozent. (mai)

VON MARINA MAI

Von ihren Patienten kann Heike Löser nicht erzählen, ohne zu schwärmen: „Hier wohnen nette Leute, viele Akademiker.“ Privatpatienten habe sie dennoch wenige, denn es sind größtenteils ehemalige DDR-Bürger und Russlanddeutsche, die das Rentenalter erreicht haben. „Sie haben eine gesunde Lebenseinstellung. Sie verbringen viel Zeit an der frischen Luft und hegen ihre Gärtchen“, erzählt die Ärztin und wirft ihren Zopf nach hinten.

Heike Löser ist Allgemeinmedizinerin in Altglienicke, einem Ortsteil am südlichen Rand von Treptow-Köpenick. Vor 20 Jahren hielten hier Bewohner noch Kühe in Stallgebäuden. Eier von glücklichen Hühnern kann man heute noch an manchem Gartenzaun erwerben. Der S-Bahnhof liegt am äußersten Rand des großflächigen Ortsteils, wer kein Auto hat, muss Bus fahren. Nach Adlershof oder Rudow braucht er bis zu einer halben Stunde.

Ein 1990 bezogenes Plattenbaugebiet liegt zwei Kilometer von Heike Lösers Praxis entfernt. Hier wohnen viele sozial Schwache, es ist eine der Berliner NPD-Hochburgen. In Lösers Praxis verirrt sich aber selten jemand aus der Siedlung.

Traumberuf Hausärztin

Die Mutter zweier erwachsener Kinder ist Ärztin aus Leidenschaft. 1994 begann sie, in der Praxis ihrer Mutter mitzuarbeiten. „Ich wollte immer Hausärztin werden“, erzählt sie. Da sei sie den Patienten am nächsten. Doch die Realität hat Löser eingeholt: 2.400 Kassenpatienten betreut sie mit einem Kollegen und einer Assistenzärztin. Normal wären die Hälfte. Als sie 1994 anfing, waren es 1.000.

„Ich habe ständig das Gefühl, nicht genug Zeit für meine Patienten zu haben“, sagt Löser. Viele Krankheiten hätten psychosoziale Ursachen. Da sei es wichtig, dass die Ärztin zuhört, wenn die Patienten vom Tod Angehöriger oder von Überschuldung erzählen. „Wenn ich mir die Zeit nehme, habe ich aber ein schlechtes Gewissen gegenüber den anderen, die gerade im Wartezimmer sitzen.“ Bis zu zwei Stunden Wartezeit muss einplanen, wer in die Praxis kommt. Zusätzlich zu dem ohnehin oft weiten Weg.

Treptow-Köpenick zählt neben Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Neukölln zu den mit Ärzten unterversorgten Bezirken. Der Versorgungsgrad bei Hausärzten beträgt 88 Prozent, bei Gynäkologen 72 Prozent, bei Neurologen nur 66 Prozent. Zum Vergleich: Im bestversorgten Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf sind es bei Hausärzten 148 Prozent, bei Gynäkologen 183 Prozent und bei Nervenärzten sogar 203 Prozent. Das wirkt sich nicht nur auf die Warte- und Behandlungzeiten aus. Auch das Budget für Verschreibungen ist auf den einzelnen Patienten gerechnet viel höher.

Treptow-Köpenick ist in fünf sogenannte Prognoseräume unterteilt. Der, in dem Heike Löser praktiziert – mit den Ortsteilen Altglienicke, Bohnsdorf, Grünau, Schmöckwitz und Rauchfangswerder – ist nur zu 50 Prozent mit Hausärzten versorgt. Wer hier nicht uneingeschränkt mobil ist, kann nicht mal schnell in Charlottenburg zum Arzt gehen. Alte, Kranke oder Familien mit Kleinkindern sind auf Versorgung im Nahbereich angewiesen.

Verzweifelte Briefe

„Seit mehreren Jahren habe ich intensiven Austausch mit der Kassenärztlichen Vereinigung zum Versorgungsdefizit mit Ärzten im Bezirk“, sagt Ines Feierabend (Linke), Gesundheitsstadträtin des Bezirks. Aus gutem Grund: Die Beschwerden häufen sich. Die Stadträtin hört das in ihrer Sprechstunde, sie bekommt Briefe von verzweifelten Bürgern. Feierabend erzählt von einer Rentnerin, die nach der Entlassung aus dem Krankenhaus keinen weiter behandelnden Arzt fand. „Aber rechtlich hat ein Bezirk gar keinen Einfluss auf die Ärzteverteilung innerhalb Berlins. Ich kann nur Ärzte bitten, weitere Patienten zu versorgen.“

Ärzte wie Heike Löser. „Rund um mich herum haben Kollegen ihre Praxen aufgegeben“, erzählt sie. Nicht aus böser Absicht: Eine Kollegin sei gestorben, andere haben das Rentenalter erreicht. „Deren Patienten landen dann bei mir. Und bei alten Menschen brauche ich oft ein ganzes Wochenende, allein um die Krankenakte zu lesen.“ Wenn sie Patienten behandle, die im Vorjahr bei anderen Ärzten waren, bekomme sie nicht einmal Geld. Denn das Budget richtet sich nach der Patientenzahl im Vorjahr. „Aber ums Geld geht es mir gar nicht. Ich will mich so um meine Patienten kümmern können, wie es sein muss.“ Man nimmt ihr diesen Satz ab.

„Eigentlich habe ich mir geschworen, keine neuen Patienten mehr zu nehmen“, sagt Löser. Aber manchmal lasse sie sich doch zu einer Ausnahme überreden. Beispielsweise bei einer 40-Jährigen, die einen Termin für eine Vorsorgeuntersuchung haben wollte. „Sie war zuvor in 13 Praxen abgewiesen worden.“

Zuständig für die Verteilung der Ärzte in Berlin ist die Kassenärztliche Vereinigung (KV). Die beharrt darauf, dass das Land ein einziger Versorgungsraum ist. Weil der insgesamt gut versorgt ist, gibt es keine zusätzlichen Arztsitze. Vereinfacht gesagt: Solange es zu viele Ärzte in Charlottenburg gibt, herrscht in Altglienicke Mangel. Ein Arzt, der seine Praxis aufgibt, kann den Sitz verkaufen. Sein Nachfolger kann aber in der Regel selbst entscheiden, ob er sich in Charlottenburg niederlässt oder in Altglienicke.

Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) habe das Problem erkannt, meint Löser. Doch gegen den Lobbyismus der KV habe er sich nicht durchsetzen können. Czaja wollte jeden Bezirk zum Versorgungsgebiet erklären. Stadträtin Feierabend würde am liebsten jeden einzelnen Prognoseraum zum Versorgungsgebiet machen, um eine wohnortnahe Versorgung zu erreichen. Durch hartnäckiges Verhandeln hat sie durchsetzen können, dass der Bezirk 2012 sieben neue Hausarztsitze bekam. „Eine Entspannung ist das noch nicht. Und von den sieben neuen Zulassungen stehen dem Bezirk auch nur fünf tatsächlich zur Verfügung.“

Kein Interessent in Sicht

Heike Löser denkt laut über die Praxis der verstorbenen Kollegin nach. Die KV hat ausnahmsweise zugesagt, der Sitz solle in Altglienicke bleiben. Doch die Erben fänden keinen Interessenten für die Praxis in dem abgelegenen Ortsteil. „Was, wenn sie den Sitz nicht verkaufen können? Wird die KV sie auszahlen oder doch einem weiteren Sitz in Charlottenburg zustimmen?“

Heike Löser schließt ihre Praxis zu. Sie hat längst Feierabend, aber im Treppenhaus kommt ihr eine Patientin entgegen. „Ich weiß, es ist schon zu“, sagt die Frau. Aber sie habe nur eine Frage: Als Kind habe sie Masern gehabt, und jetzt rieten die Medien zur Impfung. „Brauche ich auch eine?“ Löser wirft ihren Zopf nach hinten und sagt: „Nicht nötig, Sie sind geschützt.“ Zusammen mit einer zufriedenen Patientin verlässt sie das Haus.