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Archiv-Artikel

Eine Zeit als Mahnmal

MITTELSTRECKE Vor 30 Jahren lief die Tschechin Jarmila Kratochvílová einen irrsinnigen Weltrekord über 800 Meter. Bis zum heutigen Tag war keine Frau schneller über die doppelte Stadionrunde

Alte Rekorde

Jarmila Kratochvílová ist nicht allein. In den 23 olympischen Leichtathletikdisziplinen der Frauen stammt fast die Hälfte der aktuellen Weltrekorde – elf – aus den 80er Jahren, der Zeit, als es noch morgensmittagsabends und zum Einschlafen Anabolika gab. Die zehn ältesten Rekorde nach dem 800-Meter-Geschichtsbuchlauf von Kratochvílová sind:

■ 6. Oktober 1985: Marita Koch, DDR, 400 Meter: 47,60 Sekunden

■ 6. Juni 1986: Jürgen Schult, DDR, Diskuswurf: 74,08 Meter

■ 30. August 1986: Jurij Sedych, UdSSR, Hammerwurf: 86,74 Meter

■ 7. Juni 1987: Natalja Lissowskaja, UdSSR, Kugelstoßen: 22,63 Meter

■ 30. August 1987: Stefka Kostadinowa, Bulgarien, Hochsprung: 2,09 Meter

■ 11. Juni 1988: Galina Tschistjakowa, UdSSR, Weitsprung: 7,52 Meter

■ 9. Juli 1988: Gabriele Reinsch, DDR, Diskuswurf: 76,80 Meter

■ 16. Juli 1988: Florence Griffith-Joyner, USA, 100 Meter: 10,49 Sekunden

■ 20. August 1988: Jordanka Donkowa, Bulgarien, 100 Meter Hürden: 12,21 Sekunden

■ 23. September 1988: Jackie Joyner-Kersee, USA, Siebenkampf: 7.291 Punkte

VON THOMAS PURSCHKE

Die 800 Meter der Frauen sind eine denkwürdige Disziplin. Diskussionsstoff gibt es nicht erst, seit die Südafrikanerin Caster Semenya 2009 in Berlin Weltmeisterin über diese Distanz wurde. Auch die sehr maskulin aussehende Maria Mutola immer wieder mal für Zweifel: Sind da tatsächlich Frauen am Start?

Eine Athletin war in dieser Hinsicht unvergleichlich. Jarmila Kratochvílová ließ zumindest was ihr einstiges Muskelkorsett anbelangt jegliche Konkurrenz von Athletinnen vor und nach ihrer Zeit weit hinter sich. Die heute 62-jährige Kratochvílová aus Tschechien ist seit nunmehr 30 Jahren Inhaberin des Weltrekords über die zwei Stadionrunden: 1 Minute und 53,28 Sekunden brauchte sie am 26. Juli 1983 für die 800 Meter bei einem Meeting in München. Es ist der älteste noch bestehende Freiluft-Weltrekord in der Leichtathletik.

Zwei Wochen später war Kratochvílová bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Helsinki auch die erste Frau der Welt, die über 400 Meter unter der 48-Sekunden-Marke blieb (47,99). Sie wurde Weltmeisterin über 400 und 800 Meter und ihre 400-Meter-Zeit wurde bis heute nur einmal unterboten – von der DDR-Athletin Marita Koch, die im Oktober 1985 sagenhafte 47,60 Sekunden lief (s. Kasten).

Diese Bestmarken wurden in den anabolikaverseuchten 80er Jahren aufgestellt und sind somit auf ihre Weise auch Mahnmale für die Pervertierung des Leistungssports. Der Heidelberger Zellbiologe und Dopingaufklärer Werner Franke sagt dazu: „Die damalige deutsche Spitze, auch über 400 bis 800 Meter waren aktenkundig alle hormonell virilisiert. Der Leichtathletik-Weltverband (IAAF) ignoriert dies jedoch bis heute. Das spricht eigentlich nur für dessen nach wie vor korrupte Grundhaltung.“ Franke verweist darauf, dass noch in diesem Jahr ein an den Doping-Opfer-Hilfe-Verein angebundenes Aktenarchiv mit zahlreichen Dokumenten zum Dopingbetrug in Deutschland sowie aus dem Ausland zugänglich gemacht wird.

Ines Geipel, einstige DDR-Sprinterin vom Sportclub Motor Jena, die ihren 1984 mitaufgestellten Vereinsstaffelweltrekord wegen des damals kriminellen und staatlich organisierten Zwangsdopings zurückgab, findet es „höchst seltsam, dass die IAAF diesen Jahrestag des Kratochvílová-Weltrekords stolz auf der eigenen Webseite präsentiert“. Sie erinnert sich: „Als ich ihr bei einem Wettkampf in den 80er Jahren in der ČSSR begegnete, war es die physische Offenbarung. Ich hatte nie vorher einen solchen Laufkörper gesehen.“

Nachdem Kratochvílová 1980 bei den Olympischen Spielen in Moskau über 400 Meter die Silbermedaille gewann, konnte sie 1984 in Los Angeles wegen des Boykotts der Ostblockstaaten nicht teilnehmen. Ein möglicher Olympiasieg blieb ihr versagt. Indes ein Jahr zuvor sorgte die Frau mit den maskulinen Gesichtszügen und dem extrem muskelbepackten Körper mit ihren beiden Weltrekorden für gehöriges Aufsehen – und Zweifel.

Auf die Frage, wie eine Frau solche enormen Muskeln aufbauen könne, antwortete Kratochvílová in den vergangenen Jahren meist mit der Floskel, sie habe eben damals über 16 Jahre lang sehr hart trainiert. Inzwischen ist hinlänglich bekannt, dass der Leistungssport besonders in den Ostblockregimen von knallhartem Drill und Unterordnung geprägt war. Ihr einstiger Trainer, der Exarmeeoffizier Miroslav Kváč, führte die Erfolge auf umfängliches Krafttraining zurück. Sein Schützling musste angeblich pro Trainingstag bis zu 16 Tonnen an Gewichten stemmen. Zudem sei Kratochvílová jeden Vormittag 18-mal 300 Meter gelaufen – gelegentlich auch mit einer militärischen Gasmaske sowie einer 10-Kilo-Bleiweste.

Dies erinnert ein wenig auch an den großen tschechischen Langstreckler Emil Zátopek und seine eigentümlichen Trainingsmethoden, der in den 50er Jahren auch ab und an in schweren Militärstiefeln durch den Wald rannte, um die Fuß- und Beinmuskulatur zu stärken.

Am Ende der Strapazen stand für Kratochvílová über 100 Meter eine Bestzeit von 11,09 Sekunden zu Buche, über 200 Meter waren es 21,97 Sekunden. Sie konnte ihre Grundschnelligkeit mit Stehvermögen auf den längeren Distanzen kombinieren.

Kratochvílová sieht heute viel schmächtiger aus als einst. Die Heldin des ČSSR-Sports arbeitet seit Langem als Leichtathletik-Trainerin beim Sportclub Cáslav Vodratny, eine gute Autostunde östlich von Prag. Sie lebt mit ihren Eltern zusammen, ist ledig und hat keine Kinder. Auf Doping konkret angesprochen, sagte sie im Jahr 2011 der FAZ: Sie verstehe sich weder als Dopingopfer noch als eines der Politik. Sie sei zu nichts gezwungen worden. Einmal in der Woche habe sie Spritzen bekommen. Diese enthielten angeblich Vitamin B12. Wenn jemand gesagt habe, dass es hilft, habe man das geglaubt, sagt sie. Ansonsten fühle sie sich gesund.

Kratochvílová sagte dem tschechischen Rundfunk dieser Tage, dass sie niemals erwartet hätte, ihren Rekord nach einen so langen Zeitraum noch immer inne zu haben. Der ist für die diesjährige deutsche Meisterin über 800 Meter, Fabienne Kohlmann von der LG Karlstadt, weit weg, außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Kohlmann brauchte in Ulm 2:04,00 Minuten. Ihre Bestzeit aus dem Jahr 2010 liegt bei 2:00,72 Minuten. Ihr persönliches Ziel ist, unter die 2-Minuten-Marke zu gelangen.

Deutsche Rekordhalterin ist mit 1:55,26 Minuten Sigrun Grau-Wodars vom Sportclub Neubrandenburg – gelaufen 1987 bei der WM in Rom. Die Olympiasiegerin über diese Strecke 1988 in Seoul gab bei den Ermittlungen zum DDR-Staatsdoping zu Protokoll, dass sie von 1983 bis 1990 das Anabolikum Oral Turinabol und andere Substanzen eingenommen habe. In der ewigen deutschen Weltbestenliste über 800 Meter rangiert die einstige Neubrandenburger Klubkollegin von Grau-Wodars, Christine Wachtel, auf Platz zwei. Wachtel lief 1987 beim WM-Finale in Rom 1:55,32 und war somit nur sechs Hundertstel langsamer als Weltmeisterin Grau-Wodars. Auch Wachtel räumte übrigens die Einnahme von Anabolika in der DDR ein.