Die Traumtänzer

SPD Der verkorkste Wahlkampf der Sozialdemokraten erinnert an 1987, das Jahr, in dem Johannes Rau nicht Bundeskanzler wurde

Am Ende dieses Sommers, wenn die Sozialdemokraten die Scherben ihres Wahlkampfs zusammenkehren, wird im Willy-Brandt-Haus die Ursachenforschung einsetzen. Warum nur ist die Sache mit Steinbrück schiefgegangen? War es eine Medienkampagne, waren es die Pinot-Grigio-Exzesse oder die Lustlosigkeit des Kandidaten?

Wenn die SPD noch eine Grundsatzabteilung hat, müsste sie sich zwei wichtigeren Fragen widmen: Warum hat die Union seit den achtziger Jahren ein besseres Gespür für Stimmungen in der Bevölkerung – in einer Bundesrepublik, die in diesem Zeitraum liberaler geworden ist und in der soziale Gerechtigkeit noch immer hohes Ansehen genießt? Und warum braucht die SPD nach verlorenen Wahlen so lange, um ihren Kurs zu korrigieren?

Ihr verkorkster Wahlkampf von 2013 erinnert in vielem an 1987: das Jahr, in dem Johannes Rau nicht Kanzler wurde. Der mittige Kandidat passte nicht recht zum Programm; die SPD hatte 1986 den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Dennoch ging die Partei mit einer Absage an eine Koalition mit den Grünen in den Wahlkampf, in der Annahme, bei ihnen handele es sich um eine Erscheinung, die man wieder unter 5 Prozent drücken könne. Die Hartleibigkeit, mit der die Schmidt-SPD zuvor die ökologische Frage behandelt hatte, war jedoch nicht wiedergutzumachen; die Sozialdemokraten hatten sich eine ganze Generation entfremdet.

Heute fällt der SPD die Erkenntnis schwer, was die Agenda-Politik angerichtet hat – für die Betroffenen ebenso wie machtstrategisch für die eigene Partei. Schon Schröder mangelte es an Fantasie, sich vorzustellen, die millionenfach verschickten Schreiben der Jobcenter (verfasst in einem Tonfall, als habe man es mit Kleinkriminellen zu tun) und die dadurch ausgelösten Existenzängste könnten eine ähnliche Katalysatorwirkung für die Linkspartei haben wie die Polizeiknüppel von Brokdorf und Startbahn West für die Grünen – und Rot-Grün auf lange Sicht unmöglich machen. Trotz entsprechender Umfragewerte schließt die Bundes-SPD eine Zusammenarbeit mit der Linken bis heute aus.

Der verächtliche Tonfall, mit dem Clement und Beck über Hartz-IV-Empfänger herzogen, ist verschwunden. Aber ihre Denkweise rumort noch in der SPD, wie diese Woche Heinrich Alt bewies. Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (und SPD-Mitglied) sprang dem Jobcenter Pinneberg bei, als es wegen eines Comics für ALG-II-Empfänger in die Kritik geriet. Darin nimmt eine Familie noch die größten Zumutungen (Zwangsumzug, Verkauf der Möbel) fröhlich an. Verständnis, dass Arbeitslose den Ratgeber unverschämt finden? „Die Debatte ist schräg, nicht die Broschüre“, glaubt Alt.

SPD-Chef Sigmar Gabriel bekräftigte in dieser Woche nochmals die Absage an eine Koalition mit der Linken. Sie sei im Westen eine „Partei von SPD-Hassern“. Und fügte hinzu, als sei die rot-rot-grüne Zusammenarbeit in Hessen an der Linken und nicht an der SPD gescheitert: „In einer Koalition muss man aber sicher sein, dass Verabredungen auch gelten.“

Gabriel hält die Linke für irrational. Aber die eigene Politik ist es nicht minder. Den Sozialdemokraten fällt schon aus psychologischen Gründen das Eingeständnis, dass Hartz IV falsch war ebenso schwer wie ein realistischer Umgang mit dessen Folge, der Gründung der Linkspartei – und beides ungleich schwerer als die Abkehr von der Atomkraft 1986. Die AKW-Politik unter Brandt/Schmidt war zwar Folge sozialdemokratischer Fortschrittsgläubigkeit, aber nicht das Kernprojekt ihrer Regierungszeit; wer aber an der Agenda zweifelt, zweifelt auch am Sinn der letzten SPD-Kanzlerschaft.

Wenn sie noch halbwegs zurechnungsfähig ist, wird die SPD 2017 eine Zusammenarbeit mit der Linken nicht mehr ausschließen. Ihre Begründung wird lauten, die Linke sei realistisch geworden. Aber in Wirklichkeit ist es die SPD, die damit ihre politische Traumtänzerei aufgibt, zwölf Jahre nach Schröders Kamikaze-Wahl 2005. Merkel wäre die nicht passiert. MARTIN REEH