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Archiv-Artikel

Ich-Bewirtung im Hort der Werte

Feine Unterschiede (7): Mit den Kindern bricht das Realo-Denken ins Leben ein. Nun muss man nicht nur sich selbst über die Runden bringen und Vorbild sein. Ist das die Neue Bürgerlichkeit? Nachrichten aus dem Inneren der Familienimprovisation

■ Gibt es sie, die viel beschworene Neue Bürgerlichkeit? Soll es sie geben? Wie fühlt sie sich an? Auf der anderen Seite: Lässt sich das Antibürgerliche wirklich noch mit Konzepten von Selbstverwirklichung verknüpfen?Eine Reihe mit Studien zum Bürgerlichen, Neo-, Alt- oder Anti-, zwischen Aufbruchstimmung und Rest-Ekel

VON PETRA KOHSE

Alle anderen haben ja schon wieder abgewunken. Aber die Familien kommen vermutlich nicht so leicht davon. Denn sie sind schon seit längerem im Verdacht und sollen es nun wirklich sein: die Einforderer und Träger einer neuen bürgerlichen Wertekultur. Zwischen Kinderwagen und Bügelberg, Spieleabend und Musikunterricht wurde das Traditionelle, Verantwortungsbewusste und Gesellschaftsverbundene gesichtet und muss jetzt die Stimmung im Land stabilisieren, die Wirtschaft stärken und die Politik in die Pflicht nehmen.

Nun gibt es natürlich viele Arten von Familien. Hier wird aus der Sicht von Akademikern und Freiberuflern um die vierzig aus tendenziell rot-grünem Milieu gesprochen – einer Gruppe, bei der das Kinderkriegen erst vor ein paar Jahren eingesetzt hat und deren Lebensführung in der Tat deutlich gewandelt erscheint. Es ist ja so. Vorher denkt man: Bloß keine Umstände, wenn es so weit ist! Die Sachen alle aus zweiter Hand, die Spielkiste ins Arbeitszimmer, und an die durchgelegene 1,40-Matratze einfach noch eine kleine rangeschoben. Selbstverständlich wollte man das Baby in der Tragetasche abends überallhin mitnehmen und es tagsüber recht schnell in die Krippe geben, denn ein Kind zu bekommen ist doch kein Grund, alles andere aufzugeben. Die Freunde, den Beruf oder gar sich selbst!

Dann aber waren es plötzlich zwei Kinder, und sie haben inzwischen das größte Zimmer für sich. Sie werden jeden Abend pünktlich ins Bett gebracht, der Babysitter kommt nur selten, und weil die Kleine sowieso noch nicht in den Kindergarten geht, muss auch die Große nach der Schule nicht in den Hort. Sie sind getauft, lernen Instrumente, tragen Dufflecoats, haben Ausbildungsversicherungen und müssen die braunen Stellen von der Banane nicht essen. Ihre Eltern sind verheiratet, stellen zu Weihnachten einen Baum auf, legen Wert auf Tischmanieren, und wenn sie abends laut Musik hören wollen, nehmen sie die Kopfhörer.

Von den früheren Freunden sind nur die übrig geblieben, die inzwischen selber Kinder haben. Man trifft sich vorwiegend zu Hause und landet irgendwann immer beim Großthema Familie. Bei Erziehungsproblemen, der Alltagsorganisation oder dem Haus mit Garten, das sich alle wünschen. Von den Frauen im Bekanntenkreis arbeitet nur die eine voll, deren Mutter in der Nähe wohnt, die anderen schaffen es nur noch in verringertem Umfang. Putzhilfen haben fast alle, und kein Einziger ist dabei, der sagt: Ach, wäre ich doch lieber nach Indien gefahren!

Ist es das, was gemeint ist? Ist das die Neue Bürgerlichkeit?

Anfühlen tut es sich ja eher labil und improvisiert. Die Rollenfrage etwa ist einfach nicht zu lösen, und so stößt man zwar am letzten Silvesterabend zu zweit mit dem einen erlaubten Gläschen Sekt noch darauf an, dass man sich das mit dem Kind ganz bestimmt teilen wird und die Frau auf keinen Fall aus ihren bisherigen Zusammenhängen rausfallen darf. Schon vor der Entbindung aber zeigt sich, dass sich die Reproduktionsanstrengung alles andere untertan macht, und so bleibt es dann.

Insgesamt gilt, dass aufgeschlossene, häuslich talentierte Männer zwar zu allerhand eingeteilt werden können und manchmal sogar ganze Bereiche verwalten, dass aber die Planung und Organisation des Kinderalltags, vom Geburtstagsgeschenk bis zur Wintergarderobe, von der Kindergartenwahl bis zum Friseurbesuch, weitestgehend den Müttern obliegt. Wobei Arbeitsteilung ja Sinn macht. Warum sollen zwei herumtelefonieren, um sich nach Betreuungsplätzen zu erkundigen, wenn die Informationen letztlich doch gebündelt werden müssen? Aber anders als ihre Mütter können Frauen heute weder ertragen, dass automatisch sie diejenigen sein sollen welche, noch wollen sie die Sache andererseits gänzlich den Männern überlassen. Dieser Double Bind trennt heutige Verhältnisse ganz entschieden von der effizienten Klarheit bürgerlicher Strukturen und kann durch Mangel an Finanzkraft auch nur in den wenigsten Fällen (Neue Großbürgerlichkeit!) mit Hilfe von verantwortlichem Personal kompensiert werden.

Womit wir beim Geld wären. Bürgerlicher Lebensstil setzt eine finanzielle Grundsicherung voraus, die heute nur den wenigsten Familien gegeben ist. Es ist ja diese Zwischengeneration, die ihr Abitur im Westen mit den Parolen „Null Bock“ und „No future“ gemacht hat, und wenn sie von ihren eigenen (bürgerlichen) Eltern nicht dazu getrieben wurden, ist es ihnen vor ihrer Familiengründung einfach nicht darum gegangen, etwas Bestimmtes zu erreichen in der so genannten Gesellschaft.

Einen Job kriegen ja, aber bitte ohne Affirmationszwang. Werbung oder so, das wäre noch in den Neunzigern niemals gegangen. Man wollte in latenter Kritikbereitschaft am Rande stehen bleiben können, besser noch: eigene „Projekte“ machen, etwas mit Zielgruppenrelevanz, bloß nichts Repräsentatives. Wobei nichts Kämpferisches in dieser Verweigerung lag. Sondern lediglich der Wunsch, weitgehend identisch zu sein mit dem, was man tat. Und natürlich: das Fehlen eines überpersönlichen Ziels. (Entsprechende östliche Biografien unterscheiden sich im Weg und in der Motivlage, aber das Ergebnis ist verblüffend oft das gleiche.)

Mit den Kindern nun brach das Realo-Denken ins Leben ein. Angesichts der Notwendigkeit, nicht mehr nur sich selbst über die Runden bringen und irgendwie auch Vorbild sein zu müssen, schmolzen die geringen ideologischen, aber auch die beträchtlichen formal-ästhetischen Vorbehalte gegen die meisten lukrativen Tätigkeiten recht schnell. Dass ebenjene (die lukrativen Tätigkeiten) seit Ende der Neunziger in ungefähr der gleichen Geschwindigkeit selbst hinwegschmelzen, tritt der tatsächlichen Eingliederung dann allerdings ebenso entgegen wie der Umstand, dass man als Kinderhauptverantwortliche(r) nur den kinderbetreuten Teil des Tages dafür zur Verfügung hätte. Weswegen es mit dem eigenen Garten bislang nichts geworden ist.

Trotzdem lässt sich sagen: Die Familiengründung hat zu einer positiveren Einstellung zur Priorität des Geldverdienens und damit letztlich zum System geführt. Nicht umgekehrt. Aber so viel Vertrauen in die Stanislawski-Methode kann man ruhig haben: Wo eine Haltung ist, wird das Gefühl schon folgen. Zumindest so lange, bis der Vorhang wieder fällt. Denn damit muss man natürlich rechnen bei den gelernten Jasagern. Dass sie, sobald sie es sich leisten können und die Kinder aus dem Haus sind, wieder in ihren Nischen verschwinden werden und dann als Großeltern institutionell wahrscheinlich nicht mehr zur Verfügung stehen.

Dynastische Vorstellungen von sich selbst sind unter den berücksichtigten Bezugsfamilien definitiv nicht auszumachen. Auch nicht unter denen mit Drittkind. Eher noch gilt Familie als eine Ansammlung von Ichs, die von den Eltern nach Kräften bewirtet werden müssen. Man wird seinen Kindern vermutlich nichts vererben können. Und weil das weder Prinzip noch Schicksal ist, sondern nur verpasstes Anhäufen, bemüht man sich, zumindest die Software des besseren Lebens zur Verfügung zu stellen. Für die Kinder wird im Bioladen eingekauft, sie sind besser gekleidet als man selbst, kriegen Spielzeugwünsche von den Lippen abgelesen und feiern eigentlich das ganze Jahr: Christliches, Jahreszeitliches, eigene Geburtstage sowie die der Stofftiere, und auch zwischenrein gibt es reichlich Überraschungen.

Man möchte wirklich selber Kind sein in einer dieser Familien, und das, vielleicht, ist auch der Schlüssel dazu. Der eine Vater lebt seine Lego-Träume weiter, die andere Mutter kauft alle Kinderbuchklassiker der 70er-Jahre nach. Die, die im Herzen nie irgendwo Bestimmtes hinwollten, können da, wo es erst um die Vorbereitung auf das wirkliche Leben geht, noch einmal begeistert mittun. Aber weil das Eigene niemals das Hinreichende sein kann (anders beim Bürgerlichen, dem das Eigene stets als Vorbild erscheint), wird auch Zusätzliches reproduziert, was zum Thema gehört, Sinn zu machen scheint und sich gut anfühlt, sei es Anthroposophisches, Bürgerlich-Konservatives oder Hippieskes.

Zumindest müht man sich, das alles hinzukriegen. Denn anders als bei den Eltern damals, die oft nur zur Hälfte erwerbstätig waren und nach der Arbeit richtige Hobbys pflegten, geht heutzutage viel Zeit mit der Alltagsorganisation drauf. Telefon, Gas, Krankenkosten, Alterssicherung – das sind ja alles Themen, um die man sich ständig kümmern muss, und auch sonst ist man im Bewusstsein der Möglichkeiten immerzu gezwungen, Fachkraft seiner privatisierten Lebensfunktionen zu werden. Mit freier bürgerlicher Selbstverwaltung hat das nicht viel zu tun.

Im Gegenteil frisst der Informations- und Selbstzuständigkeitszwang einen Großteil der Energien, mit denen sich auch heutige Familien einem irgendwie verbindlichen kulturellen (und für eine etwaige Bürgerlichkeit unabdingbaren) Mehrwert widmen könnten, gegen den sie prinzipiell nichts haben, den sie aber zeitlich und finanziell einfach nicht schaffen.

Das, was im genannten Milieu wie eine Neue Bürgerlichkeit aussehen könnte, ist tatsächlich also der eklektizistische Verwurzelungsversuch individualistisch sozialisierter und inzwischen auch staatlicherseits auf sich selbst verwiesener Eltern. Ein echter Bürgerlicher, Kulturarbeiter und Freigeist in seinen Siebzigern, sagte vor einigen Wochen: „Na gut, Sie haben zwei kleine Kinder. Aber Sie werden mit Ihrer Zeit doch Besseres anzufangen wissen, als Klötzchen zu stapeln.“

Theoretisch schon. Aber wenn es an einem Tag dann wirklich nicht zum Klötzchenstapeln kommt, meldet sich gleich ein schlechtes Gewissen.