: Kaisers Steigerungslauf
Franz Beckenbauer erleidet einen seiner berüchtigten Ausbrüche, gut 90 Tage vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft. Er kritisiert Bundestrainer Jürgen Klinsmann, vor allem dessen Eigenwilligkeit
AUS BERLIN MARKUS VÖLKER
In Newport Beach soll in diesen Tagen ein laues Lüftchen wehen; die Temperaturen so um die fünfzehn Grad liegen. Jürgen Klinsmann, der 93 Tage vor der Fußball-Weltmeisterschaft wieder in Kalifornien weilt, wird es ziemlich egal sein, wie frühlingshaft-mild das Wetter in seiner Wahlheimat ist. Denn er muss Fußball-Deutschland, dieser erregten Nation, erklären, warum er just in dieser Woche an der Pazifikküste seinen Geschäften nachgeht – und nicht auf einem Trainerkongress in Düsseldorf, einer eher zu vernachlässigenden Veranstaltung von Fußballfunktionsträgern, die sich aufs Repräsentieren und Händeschütteln verstehen und in einem Düsseldorfer Hotel diverse Buffets stürmen dürfen.
Als werde der Gastgeber von der WM-Teilnahme ausgeschlossen, wenn Klinsmann von nun an nicht jede Minute im Lande verbringt, steigert sich die Schelte zu einem höchstinstanzlichen Verweis. Stünde es in der Macht von Franz Beckenbauer, des WM-Hohepriesters, dann würde wohl eine Einheit des Bundesgrenzschutzes, oder besser der GSG 9, in die Staaten jetten, um den fernen Bundestrainer nach Deutschland zu holen. Noch beschränkt sich Beckenbauer auf verbale Ermahnungen. „Er hätte die Pflicht zur Teilnahme gehabt“, schimpft er. „Aber es macht keinen Sinn, mit ihm darüber zu reden.“ Bis in die Tagesthemen hat es der bollernde Beckenbauer gebracht; die nationale Aufgabe lebt. Der Kaiser verbohrt sich in seinen Nabel der Welt, klaubt ein paar Flusen hervor – und lässt sie von den Medien bestaunen. Beckenbauer weiß die Öffentlichkeit zu manipulieren, zumal die Boulevard-Presse noch jede Weisheit des Kaisers abgedruckt hat. Man kennt das Szenario: Wer es wagt, Beckenbauers WM-Projekt zu bekritteln, erinnert sei an die Stiftung Warentest, muss mit einem Eintrag in die Personalakte rechnen.
Klinsmann schreibt indes Mails aus Newport Beach – folgenden Inhalts: „Sachlich war mein Erscheinen nicht unbedingt notwendig.“ Punkt. „Ich war seit Rückrundenbeginn drei von fünf Wochen in Deutschland und an vielen Orten unterwegs.“ Punkt. „Wir haben einen Arbeitsstil, der für viele vielleicht gewöhnungsbedürftig ist.“ Ende der Nachricht.
Keinen Menschen hätte ein abwesender Klinsmann gestört – wenn es nicht diese vermaledeite 1:4-Niederlage in Florenz gegeben hätte. Sie hat die Stimmung verändert. Klinsmann ist stark in die Defensive geraten. Eilige Kritiker glauben, ein Tribunal veranstalten und Klinsmann vorladen zu können. Der aber denkt gar nicht daran, topographische Zugeständnisse zu machen. Er bleibt stur. Klinsmann sieht kein Problem, er will keines sehen. In jedem Beruf gebe es unterschiedliche Meinungen, verkündet er übers Internet. Das hat etwas von Basta-Politik, diesmal in den Gefilden des Fußballs. Dass sich ein Neueinsteiger im Trainergeschäft diese Taktlosigkeit erlaubt, bringt so manchen auf.
Helmut Markwort, Chefredakteur des Wochenmagazins Focus, lässt zum Beispiel wissen: „Die besten Fußballspieler des Landes werden einem Träumer überlassen, einem Einzelgänger, der mehr Guru ist als Stratege, der erfahrene Spieler wegmobbt und junge verunsichert.“ Markwort weiß bestimmt, wovon er spricht, jedenfalls hat er sich eingereiht in die Riege jener, die den Ernstfall für die Weltmeisterschaft proben: die Demontage Klinsmanns im Misserfolgsfall. Hier wird schon mal die Szene bespielt, in welcher der Held stürzt und die Immer-schon-Besserwisser die Bühne stürmen. Selbst der Kicker entwickelt Fouché’sches Format: „Klinsmann entgeht offenbar, wie die Situation eskaliert!“, ereifert sich das Fußballblatt aus Nürnberg.
Dabei hat das Ganze wenig von Eskalation und viel von einer Inszenierung, die etwas erzählt über mangelnde Distanz zu und Überidentifizierung mit dieser WM. Diesen Vorwurf kann man der Neuen Zürcher Zeitung sicherlich nicht machen. Sie schreibt, gänzlich unaufgeregt: „Deutschland ist in Erwartung eines stürmischen Sommers. Seit Mitte 2000 braucht man zu dieser Prognose keine prophetische Gabe. Als unser nördliches Nachbarland in Zürich etwas überraschend den Zuschlag zur WM-Durchführung 2006 erhielt (gegen Südafrika), geriet der Stand der Erregtheit in den Komparativ; daraus ist bis dato ein Steigerungslauf geworden.“
Und noch ist kein Ziel in Sicht.