: Mamas Revolver
VON DIRK KNIPPHALS
In Ridley Scotts Kinoklassiker „Blade Runner“, einem Science-Fiction-Film, gibt es einen Test, mit dem geprüft werden kann, ob jemand tatsächlich ein Mensch ist oder aber ein so genannter Replicant. Replicanten sind gentechnisch produzierte Humanoide, die inzwischen aber eine Art Bewusstsein entwickelt haben. Die Testfragen sollen beim Probanden eine emotionale Reaktion auslösen, und da kommt dann das Mutterthema ins Spiel.
Die erste Szene des Films zeigt einen solchen Test. Ein Mann befragt sein Gegenüber: Was er tun würde, wenn er Tiere sähe, die sich quälen, etwa. Dann fragt er ihn nach seiner Mutter. Darauf sagt der andere (er ist, wie sich herausstellt, ein Replicant): „Meine Mutter? Ich erzähle Ihnen etwas über meine Mutter!“ Er zückt eine Pistole und schießt sein Gegenüber über den Haufen. Es war die ultimative Frage, um eine emotionale Reaktion auszulösen. Selbst wenn man gentechnisch erzeugt wurde und gar keine Mutter hat. Oder vielleicht gerade deswegen.
Ehrlich gesagt, das ist eine meiner Lieblingsszenen: Es geht emotional ans Eingemachte, sobald das Gespräch auf die eigene Mutter kommt. Ich bringe diese These, die ja eher noch ein Thesen-Vorstadium ist, hin und wieder gerne versuchsweise in Gespräche ein. Und damit löse ich oft interessante Reaktionen aus. Eine Kollegin meinte neulich halb spöttisch, ihr würden ständig alle Männer erzählen, sie hätten ein Muttertrauma. Ich fühlte mich gleich an Woody Allen erinnert, die Szene, in der ein überlebensgroßer Mutter-Luftballon über den Dächern Manhattans schwebt, ein Albtraum.
Eine andere Kollegin merkte versachlichend an, dass die frühkindliche Auseinandersetzung mit der Mutter sowieso noch in die vorsprachliche, also vorrationale Phase falle, was das Drängende und Unbearbeitete der Mutterbeziehung vieler Männer erklären könne (ein Punkt, der auch die unsprachliche Reaktion im „Blade Runner“ diskursiv handhabbar machen kann). Und viele männliche Bekannte reagieren gleich mit einem viel sagenden Handwegwischen, so nach: „Da könnte ich dir jetzt aber etwas erzählen.“ Als wolle man nicht vermintes Gelände betreten.
Schnell einigen kann man sich darauf, dass Auseinandersetzungen mit dem eigenen Vater nichts sind im Vergleich zu den emotionalen Anstrengungen, die es kostet, sich mit seiner Mutter auseinander zu setzen. Bei Vätern, so der Tenor, läuft das alles viel rationalisierter ab. Außerdem gibt es unzählige kulturelle Muster, auf die man zurückgreifen kann, vom alten Vatermord-Motiv über James Dean in „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ bis hin zu Theweleit und den anderen 68ern. So schmerzhaft Vaterkonflikte im Einzelfall auch oft sind, man bewegt sich sozusagen auf vertrautem Gelände.
Bei Mutterkonflikten hingegen? Wie fremd das Wort schon klingt! Ach, man hat hier bereits Schwierigkeiten, überhaupt kulturelle Muster auszumachen. Wenn es sie gibt, wird voll in die Tasten gehauen – indem man etwa griechisches Sagenmaterial heranzieht (Medea, Lilith). Daneben dominieren Muster, nach denen erschütternde emotionale Defizite von Romanfiguren über eine Distanz zu ihrer Mutter illustriert (der grandiose Beginn von Camus’ „Der Fremde“: „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht“) oder auch ganz motiviert werden (so in der sexuellen Traumawelt von Michel Houellebecq). Wenn man bei Müttern nicht gleich im Urschlamm wühlt, so ist doch wenigstens emotionaler Ausnahmezustand angesagt. Psychoanalytischen Gerüchten zufolge soll man ja seinen Vater töten und seine Mutter lieben. Was aber, wenn so eine Mutter sich nicht lieben lässt? Die bestehenden kulturellen Muster bringen einen hier nicht recht weiter. Aus der Sohn- oder Tochterperspektive mutet einem der sein Revolver entsichernde Replicant aus „Blade Runner“ gelegentlich recht brüderlich an.
Es gibt allerdings eine Bevölkerungsgruppe, die solche Überlegungen überhaupt nicht anficht. Das sind ausgerechnet die jungen Mütter. Wer Gelegenheit hatte, in diesem Bereich einige teilnehmende Beobachtungen zu sammeln, wird festgestellt haben, dass es eher gut ist, das Thema der Abgründe von Mütterlichkeit beziehungsöffentlich nicht an die große Glocke zu hängen. Man erntet höchstens den Hinweis, dass man mit seiner eigenen Mutterbeziehung doch endlich einmal klarkommen müsse.
Das Bevölkerungssegment der aktuellen Kinderwunsch-Verwirklicherinnen neigt sowieso eher dazu, das Mutterthema tiefer zu hängen. Bloß keine Gesamtidentifikation mit dem Kinderprojekt! Fast hat man den Eindruck, sie denken, sie brauchten doch nicht gleich Mütter zu werden, nur weil sie ein Kind kriegen.
Aus der Perspektive des beigeordneten Mannes findet man das alles ja auch ganz prima und unbedingt unterstützenswert (ganz gerührt guckt man etwa bei „Gilmore Girls“ auf die Versuche der Mutter, ihrer Tochter eher eine Schwester sein zu wollen). Wer will denn schon ein Muttertier zur Frau? Und: Wenn man da vorab alle Abgründe bedenken würde, würden ja gar keine Kinder mehr geboren.
Sozusagen aus Solidarität mit der eigenen Sohnperspektive kann man aber manchmal nicht umhin, zu denken: Na, wenn das mal gut geht (das Tieferhängen des Themas nämlich)! Dass es im Verlauf von Mutterschaften gehörige biologische und diskursiv induzierte Herausforderungen mit manchmal nicht ganz unerheblichen Kollateralproblemen für die nähere Umgebung zu bestehen gilt, hat man schließlich schon einmal mitgekriegt. Natürlich würde man nie Probleme mit seiner eigenen Mutter in die Beziehung hineintragen. Niemals! Aber gewisse, nennen wir es: Schattierungen von Mütterlichkeit hat man eben nicht als Partner, sondern als Sohn erfahren, und diese Erfahrungen kann man nicht einfach abschalten.
Die andere Richtung dieser Erfahrungen ist aber auch interessant. Wer Mütterlichkeit aus der gleichberechtigten Perspektive des Partners erlebt, hat zumindest die Chance, etwas gelassener auf sein Sohnsein und die Bedrängnisse, die sich dabei boten, zurückzublicken. Ultimativ bleibt die Frage nach der Mutter aber wohl dennoch.