: Poetische Dauer-Power
GEDICHTE Das Projekt „Zwiesprache Lyrik“ von Heide-Marie Voigt verwandelt bemerkenswert weite Teile von Bremen in ein Poesie-Labor. Da hinkt sogar der „Welttag“ hinterher
Im Rahmen von „Zwiesprache Lyrik“ findet am Dienstag eine Lesung verbotener Gedichte in der Forschungsstelle Osteuropa statt. Studierende und wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Instituts beschäftigen sich mit der Osteuropäischer Poesie vor 1989 und schenken Tee aus dem Samowar aus (18 Uhr, Klagenfurter Str. 3).
■ Am Mittwoch spricht Mahmood Falaki um 19 Uhr in der Zentralbibliothek am Wall über Exilliteratur in Deutschland. Der in Hamburg lebende, jedoch im Bremer Sujet-Verlag publizierende iranische Schriftsteller beschreibt den Kultur-Verlust durch Emigration sowohl anhand deutscher Autoren im Zweiten Weltkrieg als auch am eigenen Beispiel.
■ Eine Auswertung des Zwiesprache-Projektes findet am 28. April um 16 Uhr im Stiftungshaus für Lebenswerte, Upper Borg 147 statt. Ein Soziologie-Leistungskurs des Gymnasiums Obervieland hat Menschen im öffentlichen Raum zu ihrer Reaktion auf Gedichte an Hauswänden befragt. Die Resultate dieser Feldforschung werden Politikern präsentiert.
Von HENNING BLEYL
Am Sonntag ist „Welttag der Poesie“. Seit dem Jahr 2000 wird er auf Beschluss der Unesco am 21. März weltweit gefeiert, auch Bremen beteiligt sich. Doch so viel poetische Power wie in diesem Jahr gab es an der Weser noch nie. Und dafür ist vor allem Heide-Marie Voigt verantwortlich.
Mit „Zwiesprache Lyrik“ hat die Kattenturmer Galeristin ein mehrwöchiges und sozusagen mehrdimensionales Poesie-Projekt in Gang gesetzt. Schon seit zwei Wochen laufen in verschiedenen Schulen Gedicht-Programme, mit Aktionen wie „Lyrik auf der Leiter“, bei der Drittklässler, ausgestattet mit Megaphon, mitten auf dem Marktplatz ihre eigenen Werke vortragen, setzt die „Zwiesprache“ auch unüberhörbare Akzente im öffentlichen Raum. Bis in den Juni hinein gibt es verschiedene Veranstaltungen.
Neben der zeitlichen Dimension erweitern Voigt und ihre MitstreiterInnen aber auch den räumlichen Rahmen des Poesie-Welttags erheblich. An die 20 Gedichtbanner mit zweisprachigen Texten sind mittlerweile über die Stadt verteilt, wobei teils erhebliche Schwierigkeiten mit dem Hubwagen überwunden werden mussten. Im Faulenquartier beispielsweise fiel ein Text der aus Polen stammenden Dichterin Dorota Tarach im ersten Anlauf dem zu hohen Verkehrsaufkommen zum Opfer. Am Turm des Bamberger-Hauses hätte in luftiger Höhe, auf zweieinhalb mal fünf Metern, folgender Text sowohl auf Polnisch wie auf Deutsch prangen sollen:
Brief
die Wort sind kurz, flüchtig
sie entkommen ungestraft
wie Fußspuren im Sand
zugeschüttet
mein Brief aus Papier
jedoch bleibt
und brennt wie eine Narbe
Auch am Sonntag im Concordia könnte der Verkehr, vor allem der Züge, die Lyrik stören, allerdings nur akustisch. Ab 11 Uhr lesen dort SchauspielerInnen des „Theaterlabors“ Texte, die im Rahmen von „Zwiesprache Lyrik“ entstanden sind. Ihren eigenen Lärm haben die Poetik-AktivistInnen schon emittiert: Während weltweit erst am Sonntag für die Lyrik, laut Unesco allerdings gleichermaßen auch für den Wald, den Frieden und gegen den Rassismus getrommelt wird, und zwar exakt um 11.30 Uhr mitteleuropäischer Zeit, haben die Bremer Poetik-Aktivisten diesen Bekundungsmarathon bereits eine Woche zuvor absolviert. Derart viel Lyrik, wie Bremen sie derzeit erlebt, lässt eben keine Zeit für internationale Rücksichtnahmen. Welche Auswirkungen diese poetische Dauer-Power auf die Stadt hat, soll am Ende des Projekts mit zwei eigenen Veranstaltungen evaluiert werden.