: Ginkgo und Gegenwart
LEBENSWERK Ben Wagin hat 50.000 Bäume gepflanzt – für den Frieden. Wie er den Krieg erlebt hat, darüber spricht er nicht
■ Der Mensch: Ben – eigentlich Bernhard – Wagin wurde am 25. März 1930 in Posen geboren. 1955 kam er nach West-Berlin. Dort gründete er 1962 die Galerie S für moderne Kunst und wurde als Allround-Künstler bekannt.
■ Der Künstler: Seit den 80er-Jahren arbeitet Wagin mit den Mitteln der Natur. International bekannt wurde er mit seiner Aktion „Parlament der Bäume“, einer Bauminstallation als Gedenkort für die Berliner Mauertoten.
■ Das Jubiläum: An seinem 80. Geburtstag werden im Parlament der Bäume Kornblumen und Mohn gesät.
VON WALTRAUD SCHWAB
Auf dem Ofen in Ben Wagins vollgestopfter Wohnung liegen Orangenschalen und weichbraune Äpfel. Sie verströmen einen abgestandenen Duft. „Essen will ich die nicht“, sagt Wagin mit einem Hauch von Entrüstung. Seine Stimme klingt jung. Er zeigt auf das Brett hinterm Ofen, wo mehr vertrocknetes Obst liegt.
Alles, was Vorstufe von Erde ist, konserviert auf halbem Weg des Verrottens, sammelt er auf den Regalen und Tischen: alter Kaffeesatz und Teeblätter, Zitronen-, Eier-, Austernschalen, Tannenzapfen, Pilze, Beeren, Raupenhäute, Mirabellenkerne, abgenagte Knochen, vorerdige Vielfalt. Die Souterrainwohnung ist Wagins Atelier. Hier lebt er. „Kinderstube“, sagt er dazu. Auch jetzt, wo er achtzig wird. Außen steht „Hauswart“ auf der Tür. Vor seinem Fenster blühen Krokusse im abgestandenen Sand.
Wagin setzt sich in den alten Schaukelstuhl neben dem Ofen. Seine Tasse stellt er auf einem Birkenstamm ab. Davor steht ein Gebilde aus Wurzeln, Muscheln, getrocknetem Abfall. Dessen Oberfläche ist zerklüftet, aufgesprungen, rau. Wenn Wagin am Ofen sitzt, arbeitet er weiter an der Skulptur, die wie ein Geschwür immer neue Formen annimmt. Er streicht über die trockenen Schwären, erkundet die Löcher, das Uneinsehbare, das Dunkle. Es könnte ein Felsen sein oder ein Tier, meint er. Ein taktiles Weltuniversum. Weich. Hart. Zerklüftet. „Was ich mache, das mache ich mit den Händen. Sprache ist unwichtig“, sagt er. Für einen zweiten Stuhl, aufgestellt in der Nähe des Ofens, bleibt kaum Platz.
Ben Wagin ist bekannt. Einige Leute bewundern ihn. Menschen, die ein Genie in ihm sehen und die sich nicht ängstigen vor seinen Widersprüchen und Provokationen, seinem Dunkel und der Leere. Viel mehr Leute aber kennen ihn, weil sie sich seinem Imperativ nicht entziehen können. Wagin will, dass man Bäume pflanzt. Oder Geld spendet, damit er sie pflanzen kann. Für ihn sind Bäume Botschafter des Friedens. Wenn er den Obolus für sie einfordert, beschimpft und bezirzt er, schmeichelt und flucht. Arroganz und Verführung liegen bei ihm nah beieinander. Und unglückliche Kausalität, die sich in seiner Argumentation Bahn bricht. Ist, wer keine Bäume pflanzt, etwa für Krieg?
Ungefähr 50.000 Bäume, schätzt Wagin – der früher Wargin hieß –, hat er in die Erde gebracht. „Meine Kinder“, sagt er. Daher die Kinderstube. Überall in Berlin stehen welche. Viele tragen nun Früchte.
Am liebsten ist Wagin der Ginkgo – Baum des Jahrtausends, lebendiges Fossil. „Er erinnert uns daran, wo wir herkommen“, sagt er. Er meint, wir kommen aus der Zeit. Allerdings hat ihm seine Liebe zum Ginkgo auch Gegner eingebracht. Sie stören sich am Geruch der Samen des Urzeitbaums. „Die stinken“, sagen sie. „Wenn die Leute auf dem Klo sitzen und scheißen, stinken sie genauso“, erwidert Wagin. Stallgeruch stört ihn nicht. Auch nicht in Worten.
Am liebsten pflanzt Wagin da Bäume, wo die deutsche Geschichte Spuren hinterlassen hat. Auf Massengräbern, auf Schlachtfeldern – den Seelower Höhen etwa. Wagin zählt weitere Schreckensorte auf. Er hat sie befriedet mit Bäumen. Jugendgruppen, Schulklassen halfen dabei. Denn Wagin versteht sich als Aktionskünstler, Umweltaktivist, Theaterregisseur, Baumpate und Lehrer. Früher war er auch Galerist. Einer jener Vorachtundsechziger, die erlebte Traumata in Provokationen packten.
Heute ist das „Parlament der Bäume“ Wagins bekanntestes Werk. Es liegt eingeklemmt zwischen den Neubauten im Regierungsviertel in Berlin. Schon als die Mauer gebaut wurde, begann die Geschichte dieses eigenwilligen Ortes. Im Niemandsland vor der Mauer im Westen sollte – höchstoffiziell – eine Skulpturenwiese entstehen. Eine Mauer aus Kunst gegen die Mauern menschlicher Tyrannei, hieß es. Wagin pflanzte Bäume. „Bäume sind großzügig und nachhaltig. Sie trennen nicht. Sie werfen Schatten zum Schutz. Krieg zetteln sie nicht an.“ Solche Sätze muss zulassen, wer Wagin verstehen will.
Als die Mauer noch stand, konnte der Platz hinterm Reichstag, auf dem Wagin, mit dem Segen der Stadtoberen, wirkte, nicht groß genug sein. Das Gelände war erloschen und tot. Dort Bäume zu pflanzen, sie in eine Zukunft hineinwachsen zu lassen – es schien das Werk eines Träumers. Wagin gelang es, einige zum Mitträumen zu bringen. Der Apfelbaum, den Klaus Töpfer, einst Umweltminister, gesetzt hat, er steht noch. Auch der Ahorn Rita Süssmuths und ein paar Obstbäume von Richard von Weizsäcker. Vierhundert Bäume kamen über die Jahre zusammen.
Nach der Wende jedoch wurde das „Parlament der Bäume“ von allen Seiten eingeengt. Jetzt liegt es wie ein wilder, anarchischer Friedhof zwischen den Regierungsbauten am Schiffbauerdamm. Die Namen der Mauertoten sind in Steine geritzt. Begrenzt wird es von ein paar Originalsegmenten der Mauer. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, steht auf einem.
Überall in der Stadt stehen die Reste der Mauer unter Denkmalschutz. Nur die im Parlament der Bäume nicht. Das Ensemble mitten im Zentrum der Macht – es ist zu anarchistisch, zu eigen. „Aber das will ich noch schaffen in meinem Leben, dass das Parlament der Bäume ein geschützter Ort wird“, sagt Wagin.
Derzeit bereiten er und ein paar Freunde den Boden dort. Kleine Vegetationsinseln sollen entstehen. An Wagins Geburtstag werden da Kornblumen und Mohn gesät. Ihn, der eigentlich keine Biografie haben will, erinnern die Blumen an damals, als er noch Kind war in Posen.
Einer, der ein halbes Jahrhundert lang beseelt und besessen seine Friedensmission vorantreibt, der muss auch den Krieg kennen. Einer, der mit solcher Wucht Gutes sucht, kennt der auch das Schlechte? Wagin nickt – und spricht nicht darüber. Die Frage nach der Vergangenheit, er wischt sie beiseite. „Familie, das war für mich nur ein Rausch.“ Vater, Mutter erwähnt er nicht. Nur den Großvater. Der sei Heiler gewesen. Einer, der Medizin aus Pflanzen kochte. Einer, der die Tiere gesund machte. Einer, der ihm die Augen öffnete im Wald, ihn im Dreck wühlen ließ, in die Ställe mitnahm.
Wagin holt eine vertrocknete Birne, die auf einer Zitronenhälfte steckt, aus dem Regal. Der Birnenstiel reckt sich filigran in die Luft. „Hier, nimm!“ Das Ensemble ist aus Bronze. Über Kunst zu reden ist leicht. Auch darüber, wovon er lebt. „Ich lebe von dem, was ich brauche.“ Im Zimmer nebenan steht sein Sarg. Den hat er selbst gezimmert. Eine Schreinerlehre hat er gemacht, bevor er Student wurde und Mitarbeiter von Künstlern. Auch der Sarg sieht erdig aus, seine Oberfläche so rau.
Zu viel Geschichte
Wenn Wagin kann, lenkt er ab. Jeder Satz von ihm schluckt einen anderen Satz. Jedes Wort versteckt ein anderes Wort. Was er sagt, fängt in der Vergangenheit an, schraubt sich in die Zukunft und von dort zurück in die Gegenwart: Urzeit, Ginkgo, Krieg, Planetensterben, Kieferzapfenernte. „Versteh doch, Mädchen!“
Versteh doch, Mädchen, sagt er und legt seine Hand auf mein Knie. Warum machst du das? „Weil ich mit den Händen rede. Das sind zehn Münder“, sagt er. Aber jetzt, da ihm Grenzen gesetzt werden, wendet er sich ab. Zurückgewiesener Junge – sein Körper sowieso so jung, so agil. Ohne Berührung, so wirkt es, gibt’s nur die halbe Geschichte. „Ich bin in Europa geboren“, sagt er. Die halbe Geschichte ist die ganze. „Dieses Europa stellt weltweit das meiste Kriegsmaterial her. Wir vergolden uns unsern Arsch mit Krieg.“
Und damals in Posen, waren da Opfer oder Täter die Begleiter des Jungen, der er dort war? Wagin, der das r aus Wargin tilgte, weil er das englische Wort für Krieg – war – nicht im Namen tragen will, findet statt Antwort nur Bilder. „Damals, als die Scheiben klirrten, war es egal, ob ein paar mehr zu Bruch gingen.“ Er wohnte in einem gemischten Haus. Juden. Nichtjuden. „Hätte ich mir nicht die Decke über den Kopf gezogen“, sagt er und beendet den Satz nicht. Er lebte mit Opfern. „Und anderen auch.“
Aber das Böse? „Das kommt noch“, sagt er. Es war der Nachbar, der ihm seine Katze vergiftete. Wagin beerdigte sie. „Dann sah ich, dass die Kornblumen und der Mohn dort, wo das Tier beerdigt war, viel kräftiger blühten.“ Deshalb die Blumeninseln im Parlament der Bäume.
Wagin ist anstrengend. Sein Du eine Anmaßung. Sein Grund ein Geheimnis. Das Gespräch schweift ab. Zu diesem Winter, der ihn zwang, zu Fuß durch den Schnee zu stapfen. Dabei war es 1944/45 noch kälter, meint er. Musstest du damals flüchten? Er wendet sich ab, erzählt von Waggons, in denen nur Pferdemist lag. „Ich bin da rein. Zwölf Tage lang. Hätte ich das nicht gemacht, wäre es mir ergangen wie den anderen.“ Mehr kann er nicht sagen. Nur das noch: „Ich habe keine Angst vor Ställen. Meine Kinderstube, die ist ja selbst so ein Stall.“