ERST ZURÜCK IM KALTEN LAND WERDEN SIE FESTSTELLEN, WAS SIE DA EIGENTLICH GEKAUFT HABEN, NÄMLICH EINEN BEMALTEN STEIN. WAS FÜR EIN SINNLOSER SCHROTT! : Urlaub macht dumm
LIEBLING DER MASSEN
Auf der Befestigungsmauer über dem Strand von Puerto Tazacorte hockt auf Freak-Art ein Freak und bemalt Steine: Freak Art eben. Leute gehen vorbei, Touristen, in der Mehrzahl Rentner und junge Frauen, eine eigenwillige Kombination. Sie sprechen den Freakmann freundlich an, was er da mache (er bemalt Steine) und wie interessant das doch sei (Steine zu bemalen) und wie schön (bemalte Steine). Zu viel Erholung lässt die Geistestätigkeit erschlaffen. Urlaub macht dumm. Das weiß der Freak – er ist hier seit Jahren – und er nutzt es aus.
Anders könnte es auch nicht funktionieren. Denn ohne den Keulenschlag der Dummheit bliebe schließlich jedermann im festen Besitz der Kenntnis, dass Mutter Natur doch weiß, warum sie ihre Söhne Stein, Fels und Brocken so und nicht anders geboren hat: nicht im buntscheckigen Gewande, nicht mit Augen, Nas’ und Ohren, nicht weich, sondern hart, und anstatt mit der Fähigkeit zu Gesang, Spiel und Tanz nur mit der einzigen, wenngleich dafür stets zuverlässigen Eigenschaft ausgestattet, eins ans andere liegend die Erdoberfläche zu einem einbruchsicher begehbaren Teppich zu fügen.
Das Geschäft läuft gut. Meist genügen ihm wenige Minuten scheinbar müßigen Geplauders, um die Urlauber glauben zu lassen, es verfeinere noch ihr Urlaubsfeeling, kauften sie sich einen völlig überteuerten bemalten Stein. Erst zurück im kalten Land werden sie feststellen, was sie da eigentlich gekauft haben, nämlich einen bemalten Stein. Was für ein sinnloser Schrott! Nun fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen. Was kann man damit anfangen? Nichts. O weh. Mit einem bemalten Stein kann man überhaupt nichts anfangen. Man kann ihn nur wegschmeißen. Was sie in diesem Moment zum Glück nicht hören: Unheimlich hallt des Nachts das hässlich meckernde Gelächter des Freaks von den Wänden seiner Wohnhöhle auf La Palma wider.
Wie zufällig entblößt
Blöd ist er nicht. Er investiert einen Teil des eingenommenen Geldes gleich wieder ins Geschäft: in die teure Steinfarbe (ein hochgiftiger Speziallack), Klebstoff für die Dreadlocks, violette Schnürpluderhosen sowie Trainingsstunden für den wohlgestalteten, wie zufällig stets entblößten Oberkörper. Rentner und junge Frauen danken es ihm.
Seine Sanftheit ist nur gespielt – da bin ich mir sicher. Eine Maske, die er sich eigens für sein Gewerbe zugelegt hat. Es stünde einem Steinebemaler am Strand nicht gut an, mit kurzgeschorenen Haaren und Thor-Steinar-Kapuzenjacke offensiv Druck auf die potenziellen Käufer auszuüben. Das passt nicht in ihre Erwartungen, die Kauflust sinkt. Also macht er gute Miene zum bösen Spiel und spielt den lässigen Freak.
Die Urlauber denken, dass er glücklich ist. Dabei langweilt er sich schier zu Tode. Freundlich schwatzt er mit der weißhaarigen Engländerin, doch das als Small Talk in der Sonne getarnte knallharte Verkaufsgespräch läuft quasi auf Autopilot, während in seinem Kopf die immergleiche Gedankenmühle aus Hass und Verzweiflung mahlt. Lieber früher als später würde er seine bemalten Steine ins Meer oder, besser noch, den Touristen an den Kopf schmeißen und in die Heimat (Kassel?) zurückkehren. Wie er die vermisst! Endlich wieder grobe Mettwurst anstatt wie seit Jahren schon nichts als Bananen und Dosen mit „Calamares en salsa americana“.
Doch er kann nicht. Hier ist er wenigstens in Sicherheit. Hier wird ihn niemand finden, in dem lächerlichen Aufzug ohnehin keiner erkennen. Denn zu Hause hat er einen Mann getötet, dessen bin ich mir sicher. Er hat ihn aus nichtigem Anlass im Streit erschlagen.
Mit einem Stein.