: Kunst an sich, heilend
AUSSTELLUNG Mit ihrem Angebot an Outsider-Kunst steht die Galerie Art Cru Berlin noch einzig in der Stadt da. „Surreale Botanik“ heißt die aktuelle Schau mit Arbeiten aus dem Offenen Atelier im St.-Hedwig-Krankenhaus
VON INGA BARTHELS
Aus schwerem schwarzem Grund wachsen sie heraus, die rostigen, metallenen Ranken, und umfassen die roten und schwarzen Herzen, die sich auf der Oberfläche befinden – als wollten sie sie wieder hineinziehen in die Dunkelheit. „Herzfressende Rostblume“ heißt diese albtraumhafte Installation.
Zu sehen ist sie in der Galerie Art Cru Berlin. Dort sind derzeit unter dem Motto „Surreale Botanik“ die abenteuerlichsten Gewächse ausgestellt: Pflanzen mit Mündern und Augen, riesige Tigerkäfer und Menschen mit Blumenkopf. Sie strahlen in intensiven Farben, ihre Stimmung reicht von bedrohlich und unheimlich bis positiv-beschwingt.
Die Kunstwerke stammen aus dem Offenen Atelier des St.-Hedwig-Krankenhauses in Mitte, in dem Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung sich künstlerisch betätigen können. In kleineren Gruppen arbeiten dort bis zu 60 Kunstschaffende in der Woche mit einer Fülle an zur Verfügung gestellten Materialien und unter der Leitung von bildenden Künstlern. Für die Ausstellung in der Galerie Art Cru beschäftigten sich die KünstlerInnen aus dem Offenen Atelier seit Anfang des Jahres mit dem Thema „Surreale Botanik“.
Die Galerie zeigt eine Auswahl von 29 Arbeiten, die das Thema auf unterschiedliche Weise und mit vielfältigen Techniken interpretieren. In einem berührend-unbeschwerten Aquarell tanzen Mensch-Blumen-Hybride im Kreis, während Maika Leffers mit „femina obscuratella“ eine feministisch motivierte Pflanzen-Collage aus Zeitungsausschnitten, die Kochtöpfe und andere Haushaltsgeräte zeigen, geschaffen hat. In einem Bild von bestechender Einfachheit zieht Manolo Nusskuch eine rote Schleife durch eine Landschaft, und Anne Dettmer präsentiert in warmen Farben zellartige Gebilde an der Grenze zur Abstraktion.
Geduld und Toleranz
An dem Herzstück der Ausstellung, dem großformatigen Acryl „Yggdrasil“, haben sich alle KünstlerInnen gemeinsam beteiligt. Nach und nach entstand dabei ein riesiger verzweigter Baum, verwurzelt durch gelbe Krallen, aus dem bunte Blumen sprießen und auf dem Tiere, Menschen und Fantasiegestalten ihren Platz finden. Dieses Gemeinschaftswerk habe viel Geduld und Toleranz von den Mitwirkenden verlangt, erzählt Paula Schmidt-Dudek, die künstlerische Leiterin des Ateliers.
Die Arbeit im Atelier bezeichnet Schmidt-Dudek als Prophylaxe, die verhindern soll, dass die Menschen, die im Atelier arbeiten, wieder auf die psychiatrische Station kommen. Dabei grenzt sie das Schaffen im Atelier entschieden von der herkömmlichen Kunsttherapie ab. „Bei der Kunsttherapie entscheidet man nicht selbst, es wird einem alles vorgegeben“, so Schmidt-Dudek. „Bei uns ist die Kunst an sich heilend.“ Allein die geschützte Atmosphäre im Atelier, die regelmäßigen Termine und das Versenken in sich selbst, das die Kunst erfordert, würde den Menschen schon viel helfen.
Outsider zu Insidern
Inzwischen gibt es in Berlin viele solcher Ateliers, in denen sich Psychiatrie-erfahrene Menschen eigenständig künstlerisch betätigen können. Als Alexandra von Gersdorff-Bultmann das Offene Atelier vor 15 Jahren gründete, war es das erste seiner Art in der Stadt. Heute leitet sie die Galerie Art Cru, bis jetzt die einzige Galerie Berlins, die sich ausschließlich der Kunst von psychisch kranken und behinderten Menschen widmet. „Surreale Botanik“ ist bereits die dritte Zusammenarbeit der Galerie mit dem Offenen Atelier. Das Ziel von Gersdorff-Bultmann ist es, ihre KünstlerInnen dem etablierten Kunstbetrieb näher zu bringen.
Sie ist nicht die Einzige, die sich dafür einsetzt. Die sogenannte Outsider Art, oder auch Art Brut, hat in den letzten Jahren an Bedeutung innerhalb der Kunstwelt gewonnen. Dazu trug maßgeblich Udo Kittelmanns „Secret Universe“-Reihe im Hamburger Bahnhof bei, die seit 2011 in monografischen Ausstellungen Outsider-Künstler präsentiert.
Auch auf der diesjährigen Venedig-Biennale zeigt der Kurator Massimiliano Gioni die Kunst der Außenseiter, der bisherige Höhepunkt der Outsider-Rezeption. Die Outsider werden zu Insidern. Womit die Vision von Menschen wie Alexandra von Gersdorff-Bultmann und Paula Schmidt-Dudek, dass nämlich die Kunst und nicht die Lebens- und Krankengeschichte der KünstlerInnen im Vordergrund stehen sollte, langsam Wirklichkeit werden könnte.
■ „Surreale Botanik“: Galerie Art Cru, Oranienburger Str. 27, Di.–Sa. 12–18 Uhr, bis 7. September