piwik no script img

Archiv-Artikel

Ey, du Scheißopfer!

Die Kunst der Beleidigung hat im Pop eine lange Geschichte: Sie verschafft Künstlern Distinktion und macht die Klassenverhältnisse sichtbar. Ganz anders die Laudatio, ihr versöhnlicher Gegenpart

„You’re a fan, a phony, a fake, a pussy, a Stan/ I still whip your ass, you 36 in a karate class“

VON KLAUS WALTER

„Du lebst mit Duckmäusern, die dir sagen, du bist der King, du springst sofort, wenn deine Mama ruft, das einzig Gute, das du je gemacht hast war ‚Yesterday‘ “. 1971, ein Jahr nach dem Ende der Beatles, haut John Lennon seinem Expartner Paul McCartney diese Zeilen um die Ohren: „How do you sleep?“ ist einer der großen Beleidigungssongs des Pop. Für Lennon ist es ein Befreiungsschlag. Wenn er Paul als von Claqueuren hofiertes Hätschelkind darstellt, dann dient das auch dem eigenen Profil. Paul hängt noch an Mamas Zipfel, ich dagegen bin mit Yoko unterwegs zu neuen Ufern.

Um Distinktion geht es häufig, wenn im Pop beleidigt wird. Mit Verbalinjurien sein Terrain abstecken. Das tat 1986 ein Kritiker der Zeitschrift Musik-Express/Sounds. Thomas Anders, den Sänger der viel geschmähten Modern Talking, beschimpfte er als „höhensonnengegerbte Sangesschwuchtel und Schoßhündchen an der güldenen Kette seiner Frau Nora“. In dankenswerter Verdichtung verrät die Tirade gleich vierfach, wo der Männlichkeitshammer hängt im Rock. Erstens legt sich ein echter Kerl nicht unter die Höhensonne. Zweitens trägt er kein Goldkettchen. Drittens ist er eine Schwuchtel und steht, viertens, unter der Fuchtel. Eloquenter kann sich kein Rockist gegen die zersetzenden Kräfte der schwulen Disco-Gefahr panzern.

Schon in den Siebzigern trafen sich amerikanische Rockisten zum öffentlichen Verbrennen von Discoplatten und erfanden den Schlachtruf „Rock fucks – Disco sucks“. Nun heißt to suck eigentlich saugen, hier meint es: Disco nervt. Prompt eigneten sich Discofreunde aus der Queer-Szene die Beleidigung an und wendeten sie gegen die phallokratische Logik des Erfinders. Subversiv umgewidmet feiert die Parole „Rock fucks – Disco sucks“ die polymorphe Oralität von Disco gegen die genitale Monotonie des Rock.

Modern Talking zu beleidigen war damals Volkssport und garantierte billigen Applaus. Den holten sich kurz nach der Sangesschwuchtel-Affäre die Goldenen Zitronen ab: „Am Tag, als Thomas Anders starb“ (zur Melodie von „The night they drove old dixie down“ bzw. „Am Tag, als Konny Kramer starb“) bescherte der Hamburger Band ungekannte Aufmerksamkeit: Bravo und Bild empörten sich über die Fatwa gegen Anders. Heute wissen die Zitronen, dass das Problem bei Modern Talking weniger die Sangesschwuchtel war als Dieter Bohlen. Der sollte sich bald entpuppen als Prototyp des neuen Ich-Unternehmers, der jeden duzt und zu jeder Schweinerei im Haifischbecken Pop bereit ist, wo man sich nur mit harten Bandagen durchsetzt, nicht mit schwulen Allüren.

Apropos duzen: Seit ein paar Wochen ist es amtlich. Dieter Bohlen darf auch Polizisten duzen. Das Landgericht Hamburg wies die Beleidigungsklage eines Beamten ab, der sich vom „Pop-Titan“ (Bild) nicht ungestraft duzen lassen wollte. Begründung: Duzen gehört bei Dieter zum normalen Umgangston. Nach gängiger Rechtsprechung gilt Duzen in Deutschland als Beleidigung. Der Polizist fühlte sich beleidigt von der Herablassung des reichen Emporkömmlings, der seine Mitmenschen wie Untergebene behandelt. Er wollte den Respekt einklagen, der ihm, auch als Angehöriger einer niederen Klasse, gebührt.

Das Wort Klasse wurde in Deutschland lange erfolgreich tabuisiert. Zuerst versteckt unter der sozialpartnerschaftlichen Kuscheldecke, dann von Adepten rot-grüner Propaganda in den Wohlfühlcontainern namens Zivilgesellschaft verstaut. Findet das K-Wort womöglich über den Beleidigungsmodus wieder Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs? Über Leute wie Bohlen? Oder Gunter Gabriel? Der Schlagersänger mit Country-Flavour ist ein Idol von Truckern und anderen Geringverdienern aus dem Fußvolk der Erniedrigten und Beleidigten. Wie viele seiner Fans trinkt auch Gabriel gern mal einen. Vielleicht hatte er einen zu viel bei seinem Auftritt in Eisleben im vergangenen Jahr.

Gabriel düpierte seine Fans aus Sachsen-Anhalt mit Rap-artig improvisierten Schmähungen: „Ihr habt ja so viel Zeit, sonst wärt ihr nicht am Nachmittag schon hier, ich hab leider keine Zeit, ich muss meinen Arsch in Bewegung halten, damit die Knete stimmt“, sprechsinglallte er ins sprachlose Marktplatz-Auditorium. Ernüchtert, aber nicht geläutert schob Gabriel tags darauf nach: „Deshalb ist Hartz IV verdammt noch mal endlich mal notwendig. Das kann nicht sein, dass einer den ganzen Tag mit dem Arsch aufm Sofa sitzt, und derjenige, dem der Schweiß den Rücken runterrollt, kriegt 200 Euro mehr. Die sollen bitte kommen, mein Boot streichen.“ Der Hamburger Musiker DJ Koze a.k.a. Adolf Noise hat Gabriels Sätze für die Nachwelt gerettet und zu einem grandiosen Zeitdokument montiert. „Zu viel Zeit?“ wurde zum Clubhit.

Eine Fleisch gewordene Beleidigung für besorgte Eltern und Bedenkenträger aus der Zivilgesellschaft sind die Berliner Aggro-Rapper. Hier zeigt die multiethnische Unterklasse ihr hässliches Gesicht. Zum Leidwesen der melancholischen Linken artikulieren Typen wie Sido und Bushido ihren Klassenstandpunkt im homophob-misogynen Dreckschleudersound. Schwul ist im deutschen wie im US-amerikanischen HipHop ein viel benutztes Schimpfwort, bis auf Mama sind Frauen im Aggro-Sprech Nutten oder Schlampen. Hier wird radikales Ego-Shooting gepredigt. In den Unterklasse-Quartieren greift ein rabiater Sozialdarwinismus nach dem Vorbild des Gangsta-Rap. Wo keine Politik, keine Gewerkschaft und keine (christliche) Kirche mehr Strukturen aufrechterhält, die die Konkurrenz um prekäre Jobs und lukrative Deals abfedert oder reguliert, da gehört das Erniedrigen & Beleidigen deines Nächsten zum guten Ton.

Fungiert Aggro Berlin als Ganzes wie eine Beleidigung der Restgesellschaft – wir dürfen nicht mitmachen? Fickt euch! – so folgt die Beleidigung von Rapper zu Rapper Genre-immanenten Regeln. Im hochkonkurrenten HipHop-Geschäft duellieren sich Rapper mit Worten wie Cowboys mit Pistolen. Dissen heißt diese Kunstform, von dis-respect, also jemandem keinen Respekt zollen. Die Geschichte des HipHop ist die Geschichte von Diss-Kämpfen. Der bekannteste Beleidigungskrieg endete vor zehn Jahren mit dem Tod des kalifornischen Rappers Tupac und seines New Yorker Rivalen Notorious B.I.G. Ihr Streit hatte sich Diss um Diss zu einem veritablen Ost-West-Konflikt hochgeschaukelt.

Allerdings geht man den selbst gestrickten Mythen des Rap auf den Leim, wenn man die Eskalation lediglich als Fortsetzung der Kunst ins richtige Leben deutet. Death Row und Bad Boy, die Plattenfirmen mit den sprechenden Namen hinter Tupac und B.I.G., sind mächtige Wirtschaftsunternehmen in guter Nachbarschaft zur Gangsta-Ökonomie. Beide Rapper verkaufen posthum mehr als zu Lebzeiten, die Archive geben’s her. Bis heute ist unklar, ob die heroische Story der beiden Rap-Todfeinde nicht doch die verkaufsträchtig zum Heldenepos hochdekorierte Camouflage eines schnöden Drogenkriegs ist.

„Nigga switch up your flow/ Your shit is garbage, but you try and kick knowledge?“

Ein unblutiges Ende fand im Dezember der Diss-Krieg zwischen Jay-Z und Nas. Die beiden prominenten Rapper hatten sich über lange Zeit eine heftige Reim-Fehde geliefert, die Stellvertreterkriege der Fangemeinden vor allem im Internet nach sich zog. Ein Ende à la Tupac & Biggie lag in der Luft. Dann die plötzliche Wende: Jay-Z nimmt seinen Erzrivalen Nas für sein Def Jam Label unter Vertrag. Konkurrenz belebt das Geschäft.

Wie im Karikaturenstreit reicht im Pop eine Beleidigung, und der schöne Schein des friedlichen und klassenlosen Miteinanders ist hin. „Imagine no possession. Imagine no religion“, sang John Lennon, und der anschließende Zweifel gilt heute mehr denn je: „I wonder if you can“. Songs wie „Imagine“ kommen immer zum Einsatz, wenn es besonders feierlich werden soll, Neil Young sang ihn bei der 9/11-Trauerfeier. Von solchen Songs bleibt bei solchen Gelegenheiten nur noch eine diffuse Besinnlichkeit, sie werden zur Klangtapete eines common feel. Solche Gelegenheiten häufen sich und bei solchen Gelegenheiten wird nicht beleidigt. Bei Preisverleihungen, Galas, Benefiz-Shows, Awards oder Fundraising Events ist die Standardrede das Gegenteil der Beleidigung: die Laudatio.

Während die Beleidigung distinktive Kategorien wie Klasse, Eigentum, Religion oder Rasse in den Diskurs zurückholt, konstituiert sich über das Medium der Laudatio eine neue Pop-Aristokratie – über alle Klassen-, Religions- und Rassenschranken hinweg. Das Laudatio-Business boomt: Bei der Goldenen Kamera hält Wolfgang Niedecken die Laudatio auf Bob Geldof. Beide Musiker haben erfolgreich ihre Nebentätigkeiten zu einer medialen Omnipräsenz ausgebaut, nachdem sie in ihrem Kerngeschäft, der Musik, an Grenzen gestoßen waren. Geldof sammelt Geld, Niedecken ist es gelungen, sich zu einer Art Stellvertreter Bob Dylans auf Erden hochzukölschen. Joschka Fischer, der letzte Rock-’n’-Roller der Politik, hält eine Laudatio auf Marcel Reich-Ranicki und in derselben Woche eine auf Bono. Der Stellvertreter des Papstes hatte den Deutschen Medienpreis erhalten und wurde damit Nachfolger von Clinton & Gorbatschow. Nicht überliefert ist, wer die Laudatio hielt, als Bono dieser Tage die in Santiago de Chile die Pablo-Neruda-Medaille erhielt.

Zurück zum Anfang: „Yesterday“ ist ja quasi Pauls „Imagine“ und wird gern bei Laudatio-Shows gespielt, zuletzt bei der Grammy-Verleihung. Der Song raunt von Troubles, die gestern noch so weit entfernt waren, und wird gern zur Völkerverständigung eingesetzt. In diesem Fall musste er dafür herhalten, schwarze und weiße Amerikaner auf der Bühne zu versöhnen. Zu diesem Zweck werden Rap und Nu Metal von den jeweiligen Branchenführern verschmolzen. Jay-Z und Linkin Park performen „Yesterday“ und benehmen sich wie die Pianotasten aus Stevie Wonders „Ebony and Ivory“. Weil aber bei Laudatio-Shows immer mal wieder der kritische Punkt erreicht werden muss, wo der Grusel von einer nicht unterdrückbaren Rührseligkeit unterminiert wird, kommt zur zweiten Strophe der leibhaftige Paul auf die Bühne. Zum Weinen. Dass Jay-Z eine kleine Beleidigung eingeschmuggelt hatte, dürfte außer Paul keinem negativ aufgefallen sein. Er trug ein John-Lennon-T-Shirt. „How do you sleep?“