: Hausarbeit als Erlebnis
Stress durch Achtsamkeit bewältigen? Klingt etwas abgehoben, hat sich aber bei Schmerzpatienten bewährt. „Mindfulness-based stress reduction“ setzt auf Meditation und Yoga. Auch banale Tätigkeiten sollen so zu lebendigen Erfahrungen werden
VON PETER HERMANNS
Das Geschäft mit dem Stress boomt. Neben fragwürdigen Offerten cleverer Wellness-Agenten und selbst ernannter spiritueller Meister rückt nun eine Methode in den Blickpunkt, deren Wirksamkeit wissenschaftlich vielfach belegt worden ist: „Mindfulness-based stress reduction“ (MBSR), frei übersetzt: Stressbewältigung durch Achtsamkeit.
Als Jon Kabat-Zinn vor fast 30 Jahren seine Tätigkeit an der Universität in Worcester/Massachusetts aufnahm, berichteten ihm Ärztekollegen von den Grenzen schulmedizinischer Schmerzbehandlung. Der Anatomieprofessor suchte deshalb nach einem Komplementärangebot. Fündig wurde er bei Buddha: Die „Achtsamkeitsmeditation“, mit der er bereits Erfahrungen gesammelt hatte, schien ihm die passende Grundlage für ein Programm zu sein, das inzwischen weltweit Beachtung findet und vom Deutschen Ärzteblatt als „bedeutende therapeutische Neukonzeption“ gefeiert wurde.
Achtsam sein bedeutet, lehrt Buddha in seinem „achtfachen Pfad zum Heil“, sich ganz auf den Augenblick konzentrieren, ohne das Wahrgenommene zu bewerten, und die Realität so anzunehmen, wie sie ist. Das erfordert Disziplin. Vor allem chronisch kranken Menschen fällt es schwer, Schmerzen oder Spannungen mit der gleichen nicht wertenden Haltung zu betrachten wie Wohlgefühle. Doch empirisch nachgewiesene Erfolge von MBSR nähren Hoffnung: Zwar kann die Methode keine Schmerzen beseitigen, aber oft gelingt es, dass Patienten Qualitätsunterschiede im Schmerzempfinden wahrnehmen, sich quälende gedankliche Verstrickungen auflösen, die mit dem physischen Leiden einhergehen, oder die Empfänglichkeit für freudvolle Momente steigt.
In der Praxis sieht das so aus: Acht Wochen lang kommen Interessierte für zweieinhalb Stunden pro Woche sowie an einem „Achtsamkeitstag“ zusammen. Die Gruppe ist bunt gemischt: gestresste Anwälte, Lehrer mit Burn-out-Syndrom, Menschen mit chronischen Schmerzen, Depressionen oder anderen psychosomatischen Erkrankungen. „Manchmal“, erzählt die Berliner MBSR-Trainerin Christina Kempe, „kommen auch Leute vorbei, die nur irgendetwas gehört haben und die Methode einfach ausprobieren wollen.“ Grundlage des Trainings ist der so genannte Bodyscan, bei dem der Körper im Liegen systematisch und aufmerksam abgetastet wird. Hinzu kommen sanft ausgeführte Yogaübungen sowie verschiedene Formen der Achtsamkeitsmeditation im Ruhezustand und in Bewegung. Anders als bei transzendentalen Meditationen werden ablenkende Gedanken, Empfindungen oder physische Beschwerden nicht minimalisiert, sondern ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Übende erkennen mit zunehmender Routine, dass achtsame und urteilsfreie Wahrnehmung all dessen den Blick für die eigene Situation schärft und damit die Voraussetzung dafür schafft, Veränderungen bewusst und aktiv einzuleiten.
„Die Saat eines MSBR-Trainings geht erst auf, wenn die ‚Laborsituation‘ in der Gruppe in den komplexen Alltag jedes Einzelnen übertragen worden ist“, sagt Angelika Töllner von der Berliner „Praxis für Stressbewältigung und Körpertherapie“. Um diesen Transfer zu leisten, stehen regelmäßige Hausaufgaben auf dem Programm. Täglich sollen die Teilnehmer 45 Minuten aufbringen, um mithilfe einer Übungs-CD zu meditieren und ein Tagebuch zu führen. Darin werden mal besonders angenehme, mal besonders unangenehme Ereignisse erfasst – einschließlich der damit verbundenen Empfindungen, gedanklichen Reaktionen und nachfolgenden Handlungen. Die Aufzeichnungen werden bei den Gruppentreffen zusammengetragen und gemeinsam reflektiert. Zum Erkenntnisgewinn tragen auch kurze theoretische Inputs über Stressforschung, kognitive Psychologie oder Kommunikationswissenschaft bei. Am Ende der acht Wochen sollen auch profane Tätigkeiten wie Schuhebinden oder Hemdenbügeln achtsam durchgeführt und damit zu einer lebendigen Erfahrung werden.
Dass MBSR in westlichen Gesellschaften eine so starke Verbreitung finden konnte, ist nicht zuletzt dem Entwickler der Methode zu verdanken. Jon Kabat-Zinn befreite die Achtsamkeitstheorie weitgehend von der Terminologie seiner Wurzeln und machte sie so auch Menschen zugänglich, die der buddhistischen Philosophie desinteressiert gegenüberstehen.
Sprachliche Sensibilität hätte man ihm auch an anderer Stelle gewünscht: Der in der Wellness-Szene gängig verwendete Technik-Begriff „Bodyscan“ will so gar nicht als Überschrift zu einer Entspannungsübung passen und hat auch mit der gleichnamigen Software zur Hautkrebsdiagnose nichts gemein. Der Anerkennung von MBSR in der Fachöffentlichkeit und bei Teilnehmern hat die zweifelhafte Formulierung aber nicht geschadet.
Jon Kabat-Zinn ist am 14. März in der Apostel-Paulus-Kirche, Berlin-Schöneberg. Beginn 19 Uhr, Eintritt: 10 €