Vorsicht, Sie werden bewacht!

Kalten Toast kauen und schießen: Von echten und falschen Amerikanern erzählt Richard Maxwell, Amerikas wahrscheinlich wichtigster Theatermacher, der in der unwirklichen Tristesse der Bush-Ära zur neuen Höchstform aufläuft. Ein Hausbesuch

Ein unheimliches Gefühl im Magen, vom urbanen Publikum gern als White-Trash-Komik weggelacht

VON DANIEL SCHREIBER

Das Bürogebäude im Fashion-District in New Yorks Midtown, gleich unterm Times Square, sieht extrem real aus: Vom Immobilienwahn in Manhattan und seinen glänzenden Glasfassaden noch verschont, bröckelt es grau und grummelnd vor sich hin. Der Aufzug wird noch persönlich von einem Concierge bedient, der laut die Nummer des erreichten Stockwerks ansagt. Auf der vierten Etage, zwischen Mode-, Start-up- und Medienunternehmen residieren die Theatergruppe New York City Players und ihr künstlerischer Leiter Richard Maxwell. Das mit Requisiten von der letzten Produktion vollgestellte Büro teilen sich drei Leute. An der Wand hängt eine schwarz-weiße Stoffbahn, die auf Spanisch eine Inszenierung des Kultregisseurs in Buenos Aires ankündigt.

Der gut aussehende Achtunddreißigjährige, unauffällig in Jeans und T-Shirt gekleidet, sitzt mir lümmelnd auf einem Bürostuhl gegenüber. Er ist weit gekommen. In Fargo, North Dakota, Amerikas weitem Mittleren Westen aufgewachsen, studierte Maxwell Schauspiel an der Illinois State University in Chicago, bevor er Ende der Neunziger nach New York zog, um sich in der experimentellen Downtown-Theaterszene als Autor und Regisseur zu etablieren. Inzwischen ist er einer der bedeutendsten Theatermacher Amerikas und weder aus New York noch aus dem europäischen Theaterfestival-Zyklus wegzudenken. Allein in diesem Jahr wird er mit drei unterschiedlichen Produktionen in Norwegen, Belgien, Deutschland und Österreich spielen, und das sind nur die Engagements, die schon fest bis zum September eingeplant sind.

In Deutschland kennt man Maxwell seit seinem Smash-Hit „House“ beim Theater der Welt 1999 in Berlin. Es war die Inszenierung, von der nach dem Festival alle sprachen. In einem Sperrholzkasten drückten sich Mutter, Vater und Sohn gegen eine weiße Wand, kauten kalten Toast, redeten mit monotonen Stimmen und schlaff herabhängenden Armen und machten so lange Pausen, dass eine Christoph-Marthaler-Inszenierung daneben wie ein Schnelldurchlauferhitzer gewirkt hätte. Das Ganze war eine virtuose Sektion des Mythos der amerikanischen Kleinfamilie, eine Art Antitheater mit dem New Yorker Hipness-Vorteil, der in Berlin so geschätzt wird.

Der in „House“ zur Schau gestellte Stil, der jedem naturalistischen Schauspielversuch rigoros einen Strich durch die Rechnung machte, sollte zum Markenzeichen Maxwells werden. In der üblichen Maxwell-Inszenierung gab es als Folge der im Alltag so gängigen Selbstinszenierungen mehr Schauspielerei im Zuschauerraum als auf der Bühne, wo den Figuren ihre sozialen Masken erbarmungslos vom Gesicht gerissen wurden. Die stimmliche und körperliche Neutralität der Schauspieler stand dabei einem hyperrealistischen Text gegenüber, der akribisch das Schicksal der vom amerikanischen Traum vergessenen Bevölkerungsschicht porträtierte. Maxwells Theatertheorie zufolge wurde so die Aufmerksamkeit auf die Realität der Bühne selbst gelenkt und eine neue Perspektive aufs Theater im Alltag eröffnet. In der Praxis aber rief dies zumeist ein unheimliches Gefühl im Magen hervor, das von den urbanen und europäischen Zuschauern lauthals als White-Trash-Komik weggelacht wurde.

Mit „Boxing 2000“ (2000), „Drummer Wanted“ (2001), „Caveman“ (2002), „Henry VI“ (2003) und „Good Samaritans“ (2004) folgten weitere Gastspiele im Frankfurter Mousonturm, im Hebbel-Theater, später im HAU, bei der Biennale Bonn, den Ruhrfestspielen und beim Festival Theaterformen. Mit der Ausnahme der Shakespeare-Inszenierung, die der Theatermacher mit großer Geste in den Sand setzte, wurde Maxwells idiosynkratischer Zugang zum Theater als extrem originelle Innovation gefeiert. Immer wieder versuchte er, der Wirklichkeit hinter den glänzenden Konsum- und Hollywoodfassaden made in USA auf die Spur zu kommen, selbst wenn er dabei manchmal auf halbem Weg zwischen ernst gemeinter These und ironischem Lacher stehen blieb.

Auch bei seiner neuesten Produktion „The End of Reality“, die kürzlich im traditionellen Experimentaltheaterhaus The Kitchen in New York Premiere hatte und Ende September beim Steirischen Herbst in Graz zu sehen sein wird, geht es um nichts weniger als die Lage der amerikanischen Nation. Zum Anfang des Stücks stürmt ein stoischer Attentäter in Sweatpants eine Sicherheitsfirma und tötet einen Mitarbeiter. Die danach einsetzende angsterfüllte Stimmung lichtet sich erst nach der Festnahme des Mannes, bricht jedoch wieder aus, als dieser grundlos von einer Auszubildenden freigelassen wird. Vordergründig geht es dabei um die seltsame Form von Kompetenz in der privaten Sicherheitsindustrie, die nach dem 11. September zu einem boomenden, tief ins gesellschaftliche Netz Amerikas eingewobenen Wirtschaftszweig geworden ist. Aber natürlich kann man sich kaum erwehren, „The End of Reality“ als tragikomische Allegorie aufs so angstbesessene wie inkompetente Bush-Land im Antiterrorkrieg zu lesen.

Für Maxwell, der bei den Präsidentschaftswahlen als Freiwilliger an John Kerrys Wahlkampagne beteiligt war, heißt das konkret, ein Amerika, auf das er nicht mehr stolz sein kann. Etwas unwillig zieht er die Augenbrauen zusammen und erklärt zögernd: „Mein ganzes Leben habe ich eine Art Patriotismus gefühlt. Aber nach den Wahlen gab es einen Umschwung in mir. Ich habe mich wirklich geschämt. Ich denke, dass unser Präsident kein wirklicher Amerikaner ist. Er ist ein unamerikanischer Politiker. Seine Werte bringen die Grundlagen dieses Landes in Gefahr – unsere Freiheiten, für die wir gekämpft haben.“

Was von der Arbeit besonders nachdrücklich im Gedächtnis bleibt, ist Maxwells neugewonnene poetische Komplexität als Theaterautor. Seine Figuren haben zum ersten Mal längere Monologe, in denen ihre Ängste, ihr Glauben, ihre Orientierungslosigkeit und ihre Fantasmen mit überraschender Einfühlsamkeit zum Ausdruck kommen. Sie haben Stimmen, deren drängende Ausweglosigkeit sich nicht mehr so einfach weglachen lässt. Maxwell habe es schon immer ein wenig geärgert, wenn sich sein Publikum von den Charakteren auf der Bühne nur zum Auslachen animiert sah. „Ich habe oft das Gefühl vom Publikum bekommen, dass es denkt, die Leute auf der Bühne, das bin nicht ich“, erzählt er, „das hat mich geärgert. Ich wollte die Sache ein bisschen aufrütteln und auch aus dem Muster meines eigenen Theatermachens herauskommen. Das war ein großer Schritt für mich, eine Art Neubeginn.“ Ein so großer Neubeginn, dass Maxwell sogar zum ersten Mal von seinem Markenzeichen, jenem radikal affektlosen Stil, abrückt und sich etwas stärker in eine traditionellere Schauspielrichtung begibt.

Auch wenn er dabei natürlich immer noch meilenweit vom bürgerlichen Theater entfernt ist. Nicht nur erlaubt er seinen Schauspielern erheblich mehr Ausdruck in der Stimme. Ihre sonst so bedrückende Bewegungsarmut weitet sich sogar zu handfesten Kampfszenen aus, die wie engagierte Zeitlupenaufnahmen aus Martial-Arts-Filmen wirken.

Was dabei herauskommt, ist eindrücklichstes Theater, bei dem die realistischer gezeichneten Figuren die Realität der Bühnensituation nicht verraten und darüber hinaus die Realität Amerikas zielgenau ins Visier nehmen. Wie ein nicht locker lassender Krampf porträtiert das Geschehen auf der Bühne die ratlose Stimmung im Land, die sich breitmachende Stagnation im Klima der immer wieder neu geschürten Angst um die eigene Sicherheit und all die persönlichen Begehren, Träume und Ideen, die dabei auf der Strecke bleiben. Es beschreibt das traurige Spannungsfeld von Verzweiflung und Apathie in einem Teil des gegenwärtigen Amerikas, jene kolossale Leere, so weit und unüberschaubar wie der Mittlere Westen selbst.

Ob Maxwell sich noch stärker in diese Richtung begeben wird, weiß er allerdings nicht genau. Vielmehr will er weiterhin versuchen, herauszufinden, „was es mit dem ‚Realen‘ auf der Theaterbühne eigentlich auf sich hat, und was es für uns bedeutet“. Die nächste Gelegenheit, sich davon ein Bild zu machen, wird sich Anfang September am Theater Bonn bieten, wo er ein Projekt inszenieren wird, das auf dem Roman von Gabriel García Márquez „Hundert Jahre Einsamkeit“ beruht: ein zweisprachiges Musical über eine deutsche Familie, die 1850 nach Amerika auswandert und sich dort aus den Augen verliert. Gerade wurden Statisten mit amerikanischem Akzent dafür gesucht. Nach einem mutigen Erkundungsschritt in Richtung Realismus klingt das allemal.