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Archiv-Artikel

Aufklärung ohne Folgen

MANNING-PROZESS Das haben die Enthüllungen via Wikileaks bewirkt: Die Aufklärer werden verfolgt, die Verantwortlichen bleiben unangetastet

Freiheit für Bradley Manning! Allüberall war diese Solidaritätsparole zu lesen, vor und nach dem Schuldspruch gegen den 25-jährigen Gefreiten der US-Armee, der Wikileaks über 700.000 Datensätze zuspielte und dafür vor dem Militärgericht gelandet ist. Noch ist der Prozess nicht vorüber, nach dem Schuldspruch vom vergangenen Dienstag wird derzeit noch über das Strafmaß verhandelt – wenn es sehr schlecht kommt, könnte Bradley Manning bis zu 136 Jahre Haft aufgebrummt bekommen.

Wer „Freiheit für Bradley Manning!“ ruft, meint damit meist, dass es gut war, dass die Weltöffentlichkeit durch ihn aufgeklärt wurde. Über die Verbrechen der US- und der irakischen Armee im Irakkrieg, über Afghanistan und alles weitere. Stimmt, das war gut. Aber was, außer der Parole „Freiheit für Bradley Manning!“, ist dabei eigentlich herausgekommen?

Kein einziger US-Militär ist etwa für den inzwischen weltbekannten US-Hubschrauberangriff auf irakische Zivilisten und zwei Reuters-Journalisten vom 12. Juli 2007, bei dem auch ein vier Jahre altes Mädchen und ein acht Jahre alter Junge schwer verletzt und ihr Vater getötet wurden, zur Verantwortung gezogen worden.

Der ehemalige Soldat Ethan McCord, der als Teil einer Patrouilleeinheit kurz nach dem Angriff an den Ort der Schlächterei kam, berichtete später detailliert über die menschenverachtenden Anweisungen der Vorgesetzten und ergänzte damit, was auf der Tonspur des von Manning geleakten Helikoptervideos ohnehin schon zu hören ist. Konsequenzen, Anklagen, unehrenhafte Entlassungen? Keine.

Im Oktober 2010 veröffentlichte Wikileaks Tausende Dokumente aus Mannings Datensätzen, aus denen klar hervorging, wie die US-Armee an Folter und Misshandlung irakischer Häftlinge durch irakische Sicherheitskräfte entweder direkt beteiligt war oder zumindest davon wusste und nichts unternahm. Konsequenzen, Entlassungen, Politikveränderungen: keine. Und so geht es weiter und weiter.

Daniel Ellsbergs Veröffentlichung der sogenannten Pentagon-Papiere half den Vietnamkrieg zu beenden. Die Informationen, die zwei Reporter der Washington Post aus geheimer Quelle erhielten, führten 1974 zum Watergate-Skandal und zum Rücktritt des damaligen Präsidenten Richard Nixon. Wird öffentlich, was verheimlicht werden soll, hatte das Konsequenzen. Das war früher jedenfalls einmal so.

Die Wikileaks-Veröffentlichungen von Mannings Material sind viel umfangreicher, viel aufschlussreicher, viel brisanter – und es geht nicht um das Ausspitzeln politischer Konkurrenten, es geht um den zehntausendfachen Tod von Zivilisten in Irak und Afghanistan – politische Konsequenzen: keine. Strafverfolgung: keine.

Was also ist es eigentlich wert, „die Weltöffentlichkeit zu informieren“, wenn „die Weltöffentlichkeit“ sich darauf beschränkt, sich irgendwie unwohl zu fühlen, aber einfach nichts unternimmt? Wie krank ist ein öffentliches Empfinden eigentlich, wenn reihenweise Minister zurücktreten müssen, weil sie in ihren Doktorarbeiten gemogelt haben, Kriegsverbrechen aber, für deren Enthüllung ein junger Mann womöglich Jahrzehnte im Gefängnis sitzt, einfach komplett folgenlos bleiben? Wenn ein US-Abgeordneter in irgendwelchen Chatrooms Bilder von seinem Schwanz verschickt und dabei erwischt wird, ist er politisch erledigt. Wenn ein Offizier Einheiten kommandiert, die reihenweise irakische Zivilisten umbringen, wird er befördert.

Eine Weltöffentlichkeit, die so vor sich hinsiecht, ist es nicht wert, um den Preis von Jahrzehnten der Haft informiert zu werden. Freiheit für Bradley Manning? Sicheres Asyl für Edward Snowden? Ja, unbedingt. Aber vor allem doch: Bestrafung der Kriegsverbrecher und ihrer Kommandeure! Prozesse gegen Donald Rumsfeld und Dick Cheney! Weg mit Prism und XKeyscore! Manning und Snowden wollten Veränderungen. Frei waren sie vorher. BERND PICKERT