Die Wende von Narni

„Die Roten kontrollieren hier einfach alles, die Stadt, die Provinz, die Region Umbrien, und die mauscheln alles unter sich aus“

AUS NARNI MICHAEL BRAUN

Der Blick ist mitleidig, vielleicht auch verächtlich. Der hochgewachsene ältere Mann, am Bahnhof von Narni, rund 100 Kilometer nördlich von Rom, nach dem Weg gefragt, antwortet: „Im ganzen Ort werden Sie kein Plakat von denen finden. Aber ich glaube, die von Forza Italia treffen sich in der Sporthalle hinter der Schule.“ Seine Stimme lässt erkennen, dass „die von Forza Italia“ die vom anderen Planeten sind – hier im roten Umbrien, im roten Narni.

Es stimmt: Auf dem Weg durch den Ort sieht man keinen einzigen Hinweis auf die Festa popolare, auf das Volksfest, mit dem Berlusconis Forza Italia hier am Abend den Wahlkampf einläuten will. Schmucke, meist nur einstöckige Gebäude, gestrichen in Rosa oder Pastellgelb, wechseln sich mit Mietskasernen aus den Siebzigern ab, und die große Chemiefabrik jenseits der Gleise mit ihrem rot-weiß gestrichenen Schornstein, mit den drei giftgrünen Silos bildet den hässlichen Kontrapunkt zum historischen Ortskern, der mit der Feste, mit den Türmen aus dem Mittelalter, mit seinen Wehrmauern oben auf dem Berg thront.

Am Gittertor vor der Sporthalle verkündet ein kleines Pappschild, ungelenk von Hand beschriftet: „Forza Italia immer geradeaus“. Der großzügig als „Palazzo Avis“ firmierende Veranstaltungsort entpuppt sich als trostlose Mehrzweckhalle mit Zementboden und einem sich im halbrunden Bogen schwingenden Dach aus grünem Plastik. Auf Baumarkt-Plastikstühlen, in zwei Reihen an den Seitenwänden aufgestellt, warten einige Dutzend alte Frauen mit Dauerwelle und Stützstrümpfen samt ihren Gatten darauf, dass was passiert.

Am Eingang steht Torquato Petrineschi, begrüßt jeden einzelnen Gast mit einem Lächeln, wie es auch Berlusconi nicht breiter hinkriegen würde. Als „örtlicher Wahlkampfkoordinator“ stellt sich der kleine, quirlige Mann mit dem feuerroten Haarschopf vor, und wie sein Chef begreift er den Wahlkampf vor allem als Gute-Laune-Offensive. „Schauen Sie sich nur um, ist das etwa die Retortenpartei, als die wir von Forza Italia immer abqualifiziert werden, sieht so eine Partei von Yuppies und Neureichen aus?!“ Er lacht wieder, die Antwort wartet er gar nicht ab.

Petrineschi hat recht: Das Publikum ist meilenweit weg vom Klischeebild der Forza-Italia-Wähler, von smarten, braun gebrannten Anzugträgern mit der Rolex am Handgelenk, von aufgedonnerten, mit Goldklunkern behängten Pelzträgerinnen. Wettergegerbte Gesichter, dicke Joppen, Strickpullover bestimmen das Bild. „Das ist unsere Stärke, wir sind eine echte Volkspartei“, setzt Petrineschi nach, während er weiter die Hände der Neuankömmlinge schüttelt. Wieder lacht er. „Und das hier ist ein echtes Volksfest“.

Die meisten im inzwischen volleren Saal drängen sich in einer dichten Traube beim Tisch, der am Kopf des Saals aufgebaut ist. Dort gibt es kein Propagandamaterial, sondern Brötchen mit „Porchetta“, kräftig gewürztem Spanferkel, und roten Landwein im Plastikbecher. Bloß eine kleine Fahne in Grün-Rot mit der Aufschrift „Forza Silvio“ erinnert von der Wand herunter an den Zweck des Treffens.

Er sei Arbeiter, bei einem Baustofflieferanten im Nachbarort, stellt sich ein 40-Jähriger mit schwarzem schütteren Haar in der Porchetta-Schlange vor. „Immer schon“ habe er Berlusconi gewählt, seit 1994, genauso wie seine Frau, die als Krankenschwester arbeitet, und das werde auch so bleiben. „Die Roten“ – die könne er doch beim besten Willen nicht wählen. „Die kontrollieren hier einfach alles, die Stadt, die Provinz, die Region Umbrien, und die mauscheln alles unter sich aus.“

Der kleine alte Herr, der durch dicke Brillengläser hochblickt, hat das gleiche Feindbild. Katholisch sei er und immer habe er christdemokratisch gewählt, bis die Partei Anfang der Neunziger im Strudel der Korruptionsskandale unterging. „Gott sei Dank kam dann Berlusconi, der bietet den Roten die Stirn, der hat verhindert, dass die an der Macht sind.“ Hört man den beiden zu, meint man, die Zeit sei hier vor 50 Jahren stehen geblieben – damals, als sich der Pfarrer Don Camillo und der kommunistische Bürgermeister Peppone in den Romanen Giovanni Guareschis ihren täglichen Kleinkrieg lieferten.

Aus den Lautsprechern dröhnt die Parteihymne „Forza Italiaaa“, und Petrineschi ist mit einem Sprung auf der kleinen Bühne. „Keine Ansprachen“, verspricht er, stattdessen gebe es jetzt Musik und Tanz, später dann Grußworte der Lokalgrößen der Partei. „300“, strahlt er, wieder runter von der Bühne, „300 Leute sind hier, alles unsere Leute, und das in einem Ort mit bloß 2.000 Einwohnern.“ Es gehe jetzt darum, die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren, die sei ja vor ein paar Wochen noch ziemlich deprimiert gewesen angesichts der Umfragen, die Prodi weit vor Berlusconi sahen.

Drei Jungs rauchen vor der Halle, alle in Jeans, einer mit Bart. Sie reden von den „traditionellen Werten“, von Kirche, Familie und Vaterland, da sei die Linke eben ein Totalausfall. Welche Erfolge der Regierung Berlusconi aus den letzten fünf Jahren ihnen einfallen? Der mit dem Bart zuckt ratlos die Schultern, dann sagt er: „Allein schon, dass Berlusconi fünf Jahre durchgehalten hat, ist doch ein enormer Erfolg.“ Auch sie glauben, dass das Blatt sich noch wenden lässt, mit einem ordentlichen Lagerwahlkampf. „Von unseren Wählern wandert doch kaum einer zu denen ab. Wir waren doch immer schon gegen die Roten, selbst unter Kanonenbeschuss würden wir uns nicht breitschlagen lassen, bei denen das Kreuz zu machen.“

Senator Franco Asciutti, ein knapp 60-jähriger, vollbärtiger Lehrer, ist der einzige Parlamentarier auf dem Fest. Mit offenem Hemdkragen und saloppem Pulli steht er zwischen den Gästen. Diejenigen wieder zu motivieren, die immer schon, lange vor Berlusconi, in der Linken den Feind sahen, ist das Ziel: „Es reicht, wenn wir unsere Anhänger an die Urne bringen, auch in dieser sehr schwierigen Region.“ Alles habe die Linke hier in der Hand, „und wir sind auf lokaler Ebene ein Desaster“. Mit Berlusconi, dem „großen Staatsmann“, werde der Wahlkampf die Wende bringen. „Den gleichen Kampfgeist“ wie beim Wahlsieg 2001 hat er ausgemacht.

„Eure Wahlstimmen für Forza Italia, und jetzt eine Masurka“, schmettert der Sänger des Duos von der Bühne, dann schieben die alten Männer ihre Liebsten zu schmissigen Weisen vom Akkordeon über die Tanzfläche. Mit der Masurka kann der 19-Jährige, der am Rand dabeisteht, zwar nichts anfangen – mit Forza Italia aber schon. Vor dem Abi steht er, dann will er zur Polizei, sagt der Junge mit dem Spitzbart. An der Schule ist er der Einzige, der sich offen für Berlusconi engagiert, mit 14 ist er Parteimitglied geworden, er stamme nun einmal aus einem katholisch-traditionellen Elternhaus. Die und wir, das ist auch für ihn die Logik, die „Roten“ und „wir moderati“, die „Moderat“-Konservativen, die bei Berlusconi ihre Heimat gefunden haben. Wenn die Normalverdienenden heute in Italien nicht mehr über die Runden kommen, da könne doch Berlusconi nichts für, „das liegt am Euro, und den Euro hat uns schließlich Romano Prodi eingebrockt, als er an der Regierung war“.

Am Ende, die Porchetta ist mittlerweile komplett weggeputzt, sprechen die örtlichen Parteiführer, unter ihnen der Forza-Italia-Chef von Umbrien. Luciano Rossi sieht mit seinem lichten dunklen Haar und mit seinen 1,90 Meter aus wie ein zu groß geratener Berlusconi-Imitator. Viel sagen muss er nicht; es reicht, dass er den „grande presidente Silvio“ erwähnt, und die Menschen im Saal sind aus dem Häuschen.

Star des Abends aber ist Torquato Petrineschi, der Mann, der für Porchetta, Wein und Masurka gesorgt hat. Die Beifallsstürme bewirken, dass er sich am Ende selbst von dem Optimismus anstecken lässt, den er den ganzen Abend lang etwas bemüht verbreitet hat. Umfragen hin, Umfragen her, Petrineschi wirkt felsenfest überzeugt, als er schließt: „Von Narni wird dieses Mal eine große Wende ausgehen.“