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Archiv-Artikel

Prävention gescheitert

Briefe der Polizei an Globalisierungskritiker waren nicht rechtens: Ein Student klagte gegen die „Gefährderanschreiben“ – und gewann vor dem Lüneburger Oberverwaltungsgericht

Von Reimar Paul

Die so genannten „Gefährderanschreiben“, mit denen die Göttinger Polizei im Jahr 2001 Globalisierungskritikern und Leuten aus der linken Szene Repressalien für den Fall ihrer Teilnahme an einer Demonstration ankündigte, waren rechtswidrig. „Die Urteile des Verwaltungsgerichts und des Oberverwaltungsgerichts sind eindeutig“, sagte Jan Steyer, einer der Betroffenen, gestern zur taz. Der heute 31 Jahre alte Student hatte stellvertretend für die insgesamt 13 Betroffenen gegen die Polizeibriefe geklagt.

Vom 13. bis 15. Dezember 2001 tagte in Brüssel ein EU-Gipfel. Attac, Gewerkschaften und viele andere Gruppen hatten zu Demonstrationen gegen das Treffen aufgerufen. Eine Woche vorher gelangten die maschinell erstellten und nicht unterzeichneten Schreiben des Staatsschutz-Kommissariats der Göttinger Polizeiinspektion durch Handverteilung in die Briefkästen der Empfänger. Sie wurden aufgefordert, sich nicht an Demonstrationen gegen den Gipfel zu beteiligen. Die Polizei wies die Angeschriebenen ausdrücklich darauf hin, dass sie an der Grenze zurückgewiesen werden könnten. Wörtlich hieß es in den Briefen: „Um zu vermeiden, dass sie sich der Gefahr präventiver polizeilicher Maßnahmen im Rahmen der Gefahrenabwehr (bis hin zur Zurückweisung an der deutsch-belgischen Grenze) oder strafprozessualer Maßnahmen aussetzen, legen wir ihnen hiermit nahe, sich nicht an den o.g. Aktionen zu beteiligen.“

Begründet wurde die polizeiliche Demo-Warnung mit vorausgegangenen Großaktionen von Globalisierungsgegnern. „Bei gleich gelagerten Aktionen (z.B. Göteborg, Genua pp.) kam es in der Vergangenheit zu erheblichen gewaltsamen Ausschreitungen einiger Demonstrationsteilnehmer“, behaupteten die Beamten. „Auch während dieses EU-Gipfels ist damit zu rechnen.“

Die Gefährderanschreiben gingen auf einen Erlass des niedersächsischen Innenministeriums zurück. Es hatte die damaligen Bezirksregierungen um „Aufklärungen“ im Vorfeld des EU-Gipfels gebeten. In anderen Städten gab es, soweit bekannt, keine vergleichbaren Briefe. Die Göttinger Schreiben lösten Proteste aus. Bürgerrechtsgruppen erklärten, die Entscheidung, ob jemand an genehmigten Demonstrationen teilnehmen wolle, sei nicht Sache der Polizei.

Grüne und PDS machten die Polizeibriefe zum Thema von Anfragen im Europaparlament und im Niedersächsischen Landtag. In der folgenden Parlamentsdebatte musste der damalige SPD-Innenminister Heiner Bartling einräumen, dass er vor den Abgeordneten falsche Angaben zu dem Fall gemacht hatte. So behauptete er zunächst, die Hälfte der 13 angeschriebenen Göttinger sei wegen versammlungsrechtlicher Delikte vorbestraft. Später korrigierte er diese Zahl auf vier. Sie waren wegen einer Beteiligung an Blockaden gegen Castortransporte angeklagt worden.

Finanziell unterstützt von der „Roten Hilfe“ reichte Jan Steyer eine Verwaltungsklage gegen die verantwortliche Behörde ein, damals noch die Bezirksregierung Braunschweig. „Mir war wichtig, dass die Polizei nicht noch einmal auf eine solche Idee kommt“, sagt der inzwischen in Greifswald wohnhafte Student.

Doch das Verfahren zog sich hin, der Vorgang drohte in Vergessenheit zu geraten. Erst im Januar 2004 bekam Steyer vor dem Göttinger Verwaltungsgericht Recht. Nun verwarf das Lüneburger Oberverwaltungsgericht die Berufung der nach Auflösung der Bezirksregierung zuständigen Polizeidirektion Göttingen. Beide Gerichte hoben in ihrer Urteilsbegründung die Rechtswidrigkeit der Anschreiben hervor und betonten die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz: Mit dem „Gefährderanschreiben“ habe die Polizeibehörde gezielt und unmittelbar in die Willensentschließungs- und Verhaltensfreiheit eingegriffen, heißt es im Urteil des Oberverwaltungsgerichts. Eine Revision ließ das Gericht nicht zu.