Erfolgreich faul

Er weiß selbst nicht wie, aber Levon Aronjan gewinnt das Turnier von Linares, das „Wimbledon des Schachs“

BERLIN taz ■ Seinen Stil charakterisiert er als „chaotisch, defensiv“. Sein Gedächtnis beschreibt er wie einen Schweizer Käse: „Ich vergesse meine Partien sofort, nachdem ich sie gespielt habe.“ Vielleicht hat gerade seine unorthodoxe Spielweise dem Armenier Levon Aronjan geholfen, am Wochenende das Superturnier von Morelina (Mexiko) und Linares (Spanien) zu gewinnen.

Wie der in Berlin-Hohenschönhausen lebende 23-Jährige nahezu ohne Training in die Weltspitze vorstoßen konnte, ist ihm allerdings selbst ein Rätsel. „Ich habe bisher lediglich ein paar billige Partien gewonnen“, befand Aronjan nach seinem mit 80.000 Dollar dotierten Weltcup-Sieg Ende 2005 im russischen Chanty-Mansijsk. Das Wissen von Spielern wie Weltmeister Wladimir Kramnik oder Peter Leko sei, meint er, „viel größer“ als das seine.

Just den Ungarn Leko ließ der Bundesligaspieler vom Schach-Club Kreuzberg in der letzten Runde des Turniers in Linares wie einen blutigen Anfänger aussehen. Der Wettbewerb gilt als „Wimbledon des Schachs“ und war mit dem Rekordpreisgeld von 380.000 Euro dotiert. Aronjan überholte mit dem Abschlusserfolg und 8,5 Punkten den bis zur zwölften von 14 Runden souverän führenden Leko (7,5), der auf Platz vier abrutschte. Zwischen die beiden schoben sich der 19-jährige aserbaidschanische Jungstar Teimour Radjabow und Wesselin Topalow mit jeweils acht Punkten.

Topalow, der Weltmeister des Schach-Weltverbandes Fide, hatte bei dem Turnier einen katastrophalen Start erwischt. Im südmexikanischen Morelia, wo die erste Hälfte der Veranstaltung ausgetragen wurde, war er völlig von der Rolle. Mit 2,5:4,5 Punkten lag der Bulgare abgeschlagen am Ende des achtköpfigen Feldes. In Spanien startete Topalow eine Aufholjagd mit vier Siegpartien. Hätte ihm nicht ausgerechnet Schlusslicht Francisco Vallejo Pons (Spanien/5) im letzten Duell ein Remis durch Dauerschach abgerungen, wäre Topalow mit dem Gesamtsieg belohnt worden. Die Top-Ten-Großmeister Wassili Iwantschuk (Ukraine), Peter Swidler (Russland/beide 6,5) und Etienne Bacrot (Frankreich/6) erreichten lediglich die Ränge 5 bis 7.

An dem zunächst mit drei Siegen in Morelia fulminant gestarteten Weltranglistendritten Swidler zog Aronjan nicht nur in Linares vorbei, sondern wird ihn wohl auch im nächsten Ranking im April überholen. Erstaunlich für jemanden, der sich als typischen armenischen Schachspieler charakterisiert: „Wir haben alle eines gemein: Wir sind faul sowie Eröffnungsignoranten – und sehr optimistisch.“ Aronjan lädt zwar wie die Konkurrenten die wichtigsten aktuellen Partien aus dem Internet herunter, schaut sie aber, behauptet er, angeblich nur kurz an, ohne sie zu analysieren. Während Rivalen wie Leko täglich acht bis zehn Stunden im stillen Kämmerlein neue Eröffnungsideen ausbrüten, spielt der frisch gebackene armenische Sportler des Jahres lieber Basketball oder erkundet mit dem Fahrrad das Berliner Umland.

Vor fünf Jahren war Aronjan wegen seines Engagements für Kreuzberg, dem derzeit stärksten der drei Berliner Erstligisten, mit der gesamten Familie umgesiedelt. Kurzzeitig spielte der U20-Weltmeister von 2002 unter deutscher Flagge, ehe er von seinem alten Heimatverband in Eriwan unterstützt wurde und seitdem wieder für diesen antritt. Nach seinem Weltcup-Sieg 2005 avancierte Aronjan zum Nationalhelden und erhielt sogar eine Audienz beim armenischen Staatspräsidenten. Der Rummel sei ihm peinlich, betonte der Weltranglistenvierte im Interview mit der Fachzeitschrift Schach und erzählte, die 80.000 Dollar Preisgeld habe er vor allem der Verwandtschaft zugesteckt.

Der Russe Jewgeni Barejew, Sekundant des ebenfalls in Berlin groß gewordenen Weltmeisters Kramnik, unterschätzt Aronjan schon lange nicht mehr und hält das Understatement des vermeintlich schlampigen Genies für „listig“. Letztlich gibt der Linares-Gewinner doch einen Teil seines Erfolgsgeheimnisses preis: „Ich habe natürlich auch meine Vorzüge: Ich bin entspannt, ich mache mir nicht zu viele Gedanken, ich laufe während der Partien viel herum und bleibe dadurch frisch“, sagt Aronjan. Und manchmal entflamme bei ihm am Brett sogar regelrechte Leidenschaft.

HARTMUT METZ