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Archiv-Artikel

Das Sterben der Stäbchen

Während China selbst immer wichtiger wird, leiden hierzulande seine langjährigen Botschafter unter Bedeutungsverlust: Das „China-Restaurant“, eine urdeutsche Erfindung, ist im Aussterben begriffen

VON HELMUT HÖGE

In Deutschland gab es nie „Chinatowns“. Die Chinesen siedelten sich hierzulande dort an, wo es noch Platz für ein China-Restaurant gab, also stets mit maximalem Abstand zu anderen Chinesen. Folgerichtig waren sie, als die Mauer fiel, die ersten Westler, die Ostdeutschland mit ihren Restaurants überzogen – flächendeckend.

Und manchmal auch mit chinesischem Humor: So nannte zum Beispiel der Wirt in Bitterfeld sein Restaurant „Verbotene Stadt“. Bis dahin hatte es bloß ein China-Restaurant in der DDR gegeben: Friedrichstraße Ecke Leipziger, wo man den Tisch ein ganzes Jahr im Voraus bestellen musste.

Die meisten Chinesen im Westen waren Dissidenten, Hongkong- und Nationalchinesen (also aus Taiwan) – Letztere zog es vor allem nach Westberlin.

In der Frontstadt empfand man ähnlich wie die Leute auf Taiwan: „Wir sind eine kleine Insel in einem Roten Meer“ – und leistete deswegen schnelle und unbürokratische Hilfe, wenn es sich um die Brüder und Schwestern aus dem (Fernen) Osten handelte.

Hinzu kamen mit der Zeit auch einige, die hier studierten – und dann blieben. Sie waren zwar „links politisiert“, leisteten aber trotzdem ihrer Community (5.500 Chinesen leben allein in Westberlin) gute Dienste, machten auch irgendwann Geschäfte mit Hongkong und Taiwan – oder eröffneten hier eben ein China-Restaurant.

1990 fing die taz-Autorin Dorothee Wenner an, all diese etwa 800 Restaurants zu fotografieren – von außen. Eingerichtet waren alle Restaurants durchgehend entweder im überladenen „Palast-Stil“ der Mandschu- und Ming-Dynastie oder im schlichteren „Teehaus-Stil“ der Sung- und Tang-Dynastie. Beide kamen dem überwiegend von Kitschfilmen geprägten China-Bild der Deutschen entgegen. Entstanden waren sie jedoch aus dem europäischen „Hotelstil“, der erst amerikanisiert wurde und dann mit den expansionistischen Bestrebungen der USA nach China gelangte – wo man ihn sinisierte.

Die Einrichtungsgegenstände (von Pagodentorbögen, Glasschnitzereien und Glas-Jade-Paravents über Holzwandbilder, Plastik-Drachensäulen, Kunststoff-Buddhas und goldene Löwen vorm Eingang bis zu Reisschalen, Tassen und Essstäbchen) liefert die Firma „Sino-Deco Berlin“ in der Naumannstraße, die von einem deutschen Wirtschaftswissenschaftler und Sinologen zusammen mit einer chinesischen Ingenieurin gegründet wurde. Sie lassen ihre Waren in Taiwan und Hongkong produzieren. Die Inhaberin des zweistöckigen China-Restaurants am U-Bahnhof Weinmeisterstraße kaufte zum Beispiel für über 800.000 Mark Einrichtungs- und Außenverkleidungs-Gadgets bei ihnen. Jetzt ist dort aber ein Tex-Mex-Laden drin. Aus einem großen China-Restaurant in der Torstraße machte die Künstlerin Laura Kikauka den „White Trash“-Club.

Mit den China-Restaurants geht es zu Ende! Das ist die Folge der großen Imagekorrektur, die China gerade durchmacht – und zu der diese Folklore-Restaurants nicht mehr passen. Wir, die Gäste, haben uns auch noch nicht dran gewöhnt, dass China bald den Ton angibt. Die Wirtschaftsstudenten an den Fachhochschulen scheinen es aber schon geschnallt zu haben: Immer mehr studieren nebenbei Chinesisch. Und neulich bekam ich bei einem Stehimbiss in der Konrad-Adenauer-Stiftung mit, wie ein rechter Historiker einen exmaoistischen Reifenhändler fragte: „Sie sind schon wieder auf dem Langen Marsch, hörte ich …?“ – „Ja,“ bestätigte der, „nach Schanghai haben wir jetzt auch noch in Kanton eine Filiale.“ So reden heute die Westberliner. Udo Waltz ist da in Peking schon fast die Nachhut!

Das Riesenreich lockt daneben aber auch zigtausend Kanalisationsdeckeldealer hervor, in fast allen Ländern: China zahlt Traumpreise für Altmetalle – Sero war der reinste Finderlohndrücker dagegen! Ein Moabiter Schrotthändler verlangte neulich schon fast verzweifelt auf einem Transparent an seinem Zaun: „Gullydeckel für China!“ Im Wedding und in Reinickendorf gibt es bereits Dutzende von Hartz-IV-Empfänger, die auf ihren langen Atem vertrauen und keine Pfandflaschen mehr zurückbringen – mit der Begründung: „Wart’s ab, in ein paar Jahren zahlt der Chinese mir dafür ein Vermögen.“

Für die China-Restaurants ist das aber alles nur schädlich! Die Chinesen sind auch die ersten, die ihre Fabriken auf Billiglohnschiffe gepackt haben: Ihre Frachter, die Tropenhölzer aus Brasilien rausholen, verarbeiten diese bereits während der Fahrt an Bord. Auf dem Festland sind derweil zigtausend chinesische Holzfäller dabei, die sibirischen Wälder zu Essstäbchen zu verarbeiten, wie der Spiegel schreibt.

Wir haben diese Sinisierung noch gar nicht richtig begriffen. Als die Chinesen neulich verkündeten, sie würden nun selbst Magnetschwebebahnen bauen und damit das „Transrapid-Konsortium“ (unter anderem Siemens) aus dem Geschäft warf, maulte die Boulevardpresse: „Sie haben uns das gute deutsche Know-how geklaut.“

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Als das Reich der Mitte schon die ersten Boulevardzeitungen verbot (unter Konfuzius – vor über 2.500 Jahren), hockte man hier noch auf Bäumen – und dachte nicht einmal in den kühnsten Träumen daran, den deutschen Wald zu Papier zu zerschreddern. Die Botschaft scheint langsam hier verstanden zu werden. Leider müssen die China-Restaurants das ausbaden.

Aber auch Dorothee Wenner hat das zu spüren bekommen: Sie wollte einer Kunstgalerie in Taipeh eine Ausstellung mit Dias von deutschen China-Restaurants nahe legen. Zu diesem Zweck schickte die Berliner Taiwanese Agency sie sogar auf Staatskosten in ein Fünfsternehotel der Kuomintang-Hauptstadt: Seit die Nationalchinesen auf Druck von Rotchina fast nirgendwo mehr Botschafter haben dürfen, meinen sie nämlich, mehr als alle anderen auf gutwillige ausländische Journalisten angewiesen zu sein.

Allein, die Taipeh-Galeristen sahen in den China-Restaurant-Dias bloß noch Nostalgie aufscheinen. Für sie ist jetzt Schanghai maßgebend! Es nützte nichts, dass Dorothee versprach, jedem Bild noch einen einfühlsamen Text über den Restaurantbesitzer beizufügen. Dazu hatte sie zuvor bereits mit einer befreundeten Dolmetscherin etliche Westberliner Restaurants besucht. Lange mit dem kantonesischen Germanisten Fang Yü diskutiert, der nach der Wende als erster Westberliner ein China-Restaurant im Osten, in Prenzlauer Berg, eröffnete. Dieses jedoch nicht mehr von Sino-Deco einrichten ließ, sondern von einer jungen Künstlerin aus Schanghai. Ohne es zu wollen, läutete er das Ende der übrigen deutschen China-Restaurants ein – mit seinem Lokal, das er prophetisch „Ostwind“ genannt hatte, denn in China sagt man über einen, der andere Mitbewerber alt aussehen lässt: „Der Ostwind bläht ihm die Segel.“ Auch Dorothee Wenner war zu dem Zeitpunkt noch ahnungslos – und hatte deswegen auch noch ein Interview mit dem Chef von Sino-Deco geführt. In Taipeh hatte sie dann auch noch die Keramik- und Möbelfabriken besichtigt, die seine Restauranteinrichtungen produzierten. Deutschland war einmal der größte Markt auf der Welt für diese China-Restaurant-Einrichtungswerkstätten.

Ja, man kann sagen, all diese derart ausgestatteten China-Restaurants von Sylt bis Oberbayern und ab 1990 von Suhl bis Rügen sind typisch deutsch. Das sehen auch die in der Hinsicht weitaus sensibler als Kulturanalysten reagierenden „Nationalstolzen“ (W. Schäuble) so, denen sie schon lange als Traditionslokale dienen, wobei ihr Stammplatz in der Regel die Drachenecke ist. Deswegen waren sie von der Gastseite aus auch die ersten, die den langsamen Untergang der China-Restaurants in Deutschland mitbekamen, indem zum Beispiel plötzlich nur noch junge spanische Touristen an den leeren Tischen Platz nahmen, Chop Suey bestellten und dabei die ganze Einrichtung mit ihren Handys abfotografierten. Das war ein deutliches Zeichen: Ihr Traditionslokal wurde zu einem Folkloremuseum.

Und in der deutschen Gastronomie begannen sich die Vietnamesen durchzusetzen. Allen voran Monsieur Vuong mit seiner gleichnamigen Suppenkultküche in Berlin Mitte. Eine Zeit lang versuchten die hiesigen Inder und Araber noch mit „Singapur“ und Fusionfood gegenzusteuern, aber das war bloß ein halbherziges Schanghaien. Während die Vietnamesen quasi aus dem hohlen Bauch heraus schöpften. Das verstand und versteht jeder! Zur gleichen Zeit wurden übrigens die italienischen Wirte von der türkischen und libanesischen Gastronomie aus den unteren Preisklassen verdrängt.

Und in den oberen bekamen sie Konkurrenz von den Clubscene-Lokalen, deren Stärke weniger im Kochen als im Formulieren der Speisekarte liegt. Fang Yü wollte da nicht mitmischen und verkaufte seinen „Ostwind“ – mit Gewinn, um sich dem Theater zu widmen. Während Dorothee Wenner auf ihren Dias sitzen blieb, obwohl die Zeit für eine abschließende Würdigung des deutschen China-Restaurant-Phänomens mehr als reif war.