: Die andere Perspektive
Der türkische Nationalismus irritiert die Europäer ebenso, wie die Vorbehalte der EU die Türken verwunden. Der Konflikt hat historische Wurzeln, die zu lange verdrängt wurden
Die Angst vor dem Islamismus hat in Deutschland einen mächtigen Bruder: das Gefühl der Bedrohung durch den türkischen Nationalismus. Was haben denn Fahnen schwingende Türken auf deutschen Plätzen verloren, fragen sich hierzulande nicht wenige. Dass mit den Menschen auch ihre Geschichte und Geschichten, ihre Mythen und Legenden eingewandert sind, ist jedoch nicht überraschend.
Die Irritationen, die dadurch ausgelöst werden, wären sogar produktiv, wenn sie die Ebene von Ängsten und Vorurteilen verlassen und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Identität führen würden. Doch so weit ist es noch nicht. Die Gegensätze zwischen der deutschen und der türkischen Erinnerungskultur könnten kaum größer sein: hier die gebrochene, schuldbewusste und „geläuterte“ deutsche Geschichtssemantik, dort der ungebrochene türkische Nationalstolz und strahlende Geschichtsmythen.
Familiengeschichten, nationale Legenden und die Ergebnisse der Geschichtsforschung verschmelzen zu einer mächtigen Konstruktion, die oft Fakten, Fiktionen und persönliche Erfahrungen vermischt. Nationales Geschichtsbewusstsein versucht diese oft widersprüchlichen Erzählstränge zu vereinheitlichen, um eine gemeinsame Identität aufzubauen.
In der Türkei werden dabei immer wieder die Ereignisse zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wach gerufen, als das Osmanische Reich zerfiel und auf seinen Trümmern die türkische Republik gegründet wurde. Dieser Gründung gingen Kriege voraus, Kriege mit europäischen Mächten, allesamt mit traumatischen Folgen. Der Balkankrieg 1912/1913, der Erste Weltkrieg 1914–1918 und der türkische Befreiungskrieg 1919–1922. Kriege, in denen Millionen Menschen Hab und Gut, Heimat und Leben verloren.
Aus dem kollektiven europäischen Gedächtnis sind diese Ereignisse weitgehend getilgt, vielleicht mit Ausnahme der ebenfalls sehr problematischen und national aufgeladenen Erinnerungskultur auf dem Balkan. Denn überlagert wurde diese Phase kriegerischer Konflikte von der Naziherrschaft und dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch ist diese Zeitspanne um den Ersten Weltkrieg herum auch für das sich vereinigende Europa von heute von existenzieller Bedeutung. Ihre Verdrängung ist gerade im Diskurs mit der Türkei gefährlich und Auslöser vieler folgenreicher Missverständnisse.
Als Europa 1945 in Schutt und Asche lag, entstand im freien Teil des Kontinents die Idee der Versöhnung, deren Kern die grundlegende Demokratisierung der europäischen Staaten ausmachte. Der Kampf gegen den Totalitarismus wurde nicht nur politisch ausgefochten, sondern auch durch die Entwicklung eines Wertekanons, der das Verhältnis zu anderen oder als ethnisch und kulturell anders angesehenen Gesellschaften neu regeln sollte.
Aus den negativen Erfahrungen der Geschichte wurde die Idee abgeleitet, den Umgang mit dem Anderen nach rechtsstaatlichen und nicht nach kulturalistisch-rassistischen Prinzipien zu gestalten. Dieser Andere war einst mal muslimisch, mal jüdisch, mal protestantisch im katholischen Frankreich, mal orthodox-christlich in Konstantinopel. Die Ideen der Aufklärung führten nicht unbedingt zum Verschwinden von Allmachtsfantasien. Nationalistisch aufgeladene Identitätsfantasien, das Streben nach Homogenität erstickten die Idee der Toleranz im Keime. Die Gesinnungskriege der Vormoderne wurden durch den industriellen Massenmord der Nazis sogar noch übertroffen.
Erst die Erfahrung des Völkermordes an den Juden wurde zum moralischen Kulminationspunkt des neuen, umkehrbereiten Europas. Dieser moralische Anspruch führte letztlich auch zur Auflösung kolonialistischer Strukturen. Doch das war selten das Ergebnis von Einsicht und Empathie. Vielmehr musste es, wie in Algerien, oftmals mit blutigen Kriegen durchgefochten werden.
Es gab keine umfassende Aufarbeitung der Kolonialgeschichte in Europa, die vergleichbar wäre mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland. Und eine Aufarbeitung des Verhältnisses zu den Türken, also zum zerfallenden Osmanischen Reich, fand schon gar nicht statt. Wie aber sieht es in der Türkei aus?
Das moderne, nationale Selbstverständnis der Türken ist gerade durch den Konflikt mit europäischen Mächten und den christlichen Minderheiten auf osmanischem Territorium entstanden. Der türkische Nationalismus wird in der Türkei nicht als Anachronismus gesehen, sondern als Reflex, der die bedrohte Existenz des türkischen Volkes gerettet hat.
Das Osmanische Reich konnte eben nicht endgültig zerschlagen und unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt werden. Aus seiner Erbmasse entstand die Türkische Republik. Und die war ein moderner Staat, einer anspruchsvollen Kulturrevolution verpflichtet, die das Land aus seiner Rückständigkeit herausführen und zu einem angesehenen Teil der westlichen Zivilisation machen sollte. Die Widersprüche der westlichen Zivilisation wurden dabei kaum beachtet. Die Dialektik, die der Aufklärung innewohnt, war noch kein Thema. Doch der Nationalismus und die Idee des mächtigen, durchorganisierten Staates wurden akzeptiert als Teil des Kanons der Moderne.
Die Türkei wurde niemals Kolonie. Dieses Faktum ist die Quelle des türkischen Nationalstolzes, der maßlose Formen annehmen kann und der nach wie vor ein großes Aufmarschpotenzial besitzt. Der Preis für die Befreiung der Türkei aus den bedrohlichen Fängen des europäischen Kolonialismus war bekanntlich sehr hoch. Sie kostete das armenische Volk auf anatolischem Territorium die Existenz.
Ebenso mussten die Griechen ihre Heimat Anatolien verlassen, verloren Hab und Gut, wenn sie auch ihr Leben retten konnten. Die Schuld an diesen Ereignissen – wenn eine solche Schuldfrage überhaupt zugelassen wird – schreibt das türkische Gedächtnis auch heute noch vor allem europäischen Kolonialmächten zu. Denn sie hätten unter dem Vorwand christlicher Solidarität die nationalistische Stimmung unter den Minderheiten im Osmanischen Reich angestachelt und für eigene Interessen missbraucht.
Da aber die ehemaligen Kolonialmächte, vor allem Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien, sich an die eigene Rolle vor und während des Ersten Weltkrieges kaum noch erinnern oder erinnern wollen, entsteht auch in diesen Fragen keine offene Kommunikation mit der Türkei.
Stattdessen kommt es zum befremdeten Schweigen oder zum Austausch gegenseitiger Vorwürfe auf der Basis historisch gewachsener Feindbilder. Es ist gänzlich undenkbar, dass eine solche Kommunikationsstruktur den türkischen Nationalismus zähmen und zur Integration der Türkei in Europa beitragen kann.
ZAFER ȘENOCAK