Kreuzberg vorm Todesstreifen

BEWEGUNGSKINO Die Mauer als Arena eines Geschlechterkampfs: Andrzej Zulawski lässt in „Possession“ seine Darsteller Isabelle Adjani und Sam Neill an die Grenzen ihrer Physis gehen

Legendär ist Zulawskis manisch-gefräßige Kamera, die alles gierig umkreist, anspringt, dynamisiert

VON THOMAS GROH

Sie küssten, doch jetzt schlagen sie sich: In Trümmern liegt die Ehe von Anna (Isabelle Adjani) und Mark (Sam Neill) schon bevor der Film begonnen hat. Wäre es bei Trümmern nur geblieben: Was hier zwischen Paranoia, Misstrauen und Eifersucht erblüht, schlägt rasch um ins grob Körperliche und geht zwei Stunden lang durch Mark und Bein. Ein Furiosum, das sich gleichermaßen aus hoher Kunst und niederer Exploitation speist: Fetzen fliegen, Blut wird fließen – Geschöpfe siechen dahin, neue werden geschaffen, ganze Kriege brechen aus.

Parforceritt à la Andrzej Zulawski. Während etwa gleichzeitig, im Jahr 1980 und gar nicht weit entfernt, Rudolf Thome in „Berlin Chamissoplatz“ das alte Kreuzberg als Ort der unwahrscheinlichen Liebe ausruft, die selbst noch zwischen Haussanierer und Hausbesetzern Brücken schlägt, zelebriert der polnische Exilregisseur den Riss, der in Form der Mauer quer durchs unsanierte Viertel führt, als Arena eines Geschlechterkampfs bis aufs Blut.

Im Norden, in der Bernauer Straße, liegt das aufgeräumte, helle, saubere, gekachelte Domizil der Familie, doch in Kreuzberg, wohin sich Anna flieht (in die Sebastianstraße 87, erster Stock – damals aufregend kaputt, heute fad aufgehübscht), west im sumpfigen Verfall der Schmier, der Wahnsinn, das in paranoider Fantasie buchstäblich monströs gedachte weibliche Begehren. Das alte Kreuzberg vorm Todesstreifen – verrußt und dreckig in beiden Filmen, dort romantisch, hier ein Ort der Kälte und des Schreckens, an dem die Vergangenheit in unheilvollen Mengen in die Gegenwart suppt.

Zimperlich und wohlsortiert war Andrzej Zulawskis Kino nie. Darin geht drunter und drüber, was in Griffnähe liegt. Bewegungskino erster Klasse: Legendär ist Zulawskis manisch-gefräßige Kamera, die alles gierig umkreist, anspringt, dynamisiert. Ebenso legendär sind die körperlichen Strapazen, die er seinen Darstellern zumutet.

Was an Traumata und Neurosen reichlich in seinen Figuren steckt, lässt er im aufgeputschten Modus ausagieren. Der entfesselte, der hysterisch rasende, der katatonisch verkrampfte Körper wird bei Zulawski auf eine Weise zum brachialen Spektakel, das zuweilen um die Gesundheit der Darsteller fürchten lässt.

Bestnoten in Cannes erhielt dafür seinerzeit Isabelle Adjani, dieses an sich porzellanhaft fragilste aller Geschöpfe des französischen Arthouse-Kinos, die hier im Stieren und Zucken, im Sichwinden und Schreien an die Grenzen ihrer Physis reicht.

Etwa in der berühmt-berüchtigten Szene, die im U-Bahnhof Platz der Luftbrücke entstand. Der Leibhaftige scheint in Adjani gefahren, wenn sie hier unter Kreischen und Schreien aus dem tiefsten Inneren ihre Einkäufe an den Kacheln zerschlägt und sich darin suhlt, als gälte es, dem Wiener Aktionismus im Tempelhof des Kalten Kriegs Konkurrenz zu machen. Auch Sam Neill geht furchterregend aufs Ganze, nur um am Ende fast engelsgleich über den Dingen zu stehen, auch wenn er ein Engel des Todes scheint.

Was man hört, steckt in „Possession“ der gesammelte Frust des Regisseurs nicht nur über die eigene gescheiterte Ehe, sondern auch über seine Quasivertreibung aus seiner polnischen Heimat, wo man ihm wegen seiner so gar nicht der Forderung nach einem braven sozialistischen Kino entsprechenden Arbeiten systematisch Steine in den Weg legte, zuletzt beim erzwungenen Abbruch der Dreharbeiten zum Science-Fiction-Epos „Der silberne Planet“, das nur als monumentales, großartig delirantes Fragment überliefert ist.

Eine giftige Trennung in aus Liebe geborenem Hass. Auch deshalb bot sich Westberlin mit seinem Charme zwischen Frontstadt und Ruch der Apokalypse so triftig für die Geschichte an, die ihr Psychodrama mit gesteigertem Furor in Horror- und Agentenfilm auflöst. Wenn Sam Neill verstohlen paranoische Blicke aus dem Fenster über die Mauer wirft, erblickt er eine mit Beton verplombte Todeszone, vor der verwirrte, echte, unfreiwillig zu Zulawskis Statisten gewordene Grenzer eifersüchtig Wache halten.

Wenn du nicht zu Hause bist, heißt es an einer Stelle, möchtest du dorthin, bist du aber dort, möchtest du von hier fort. Ein Zustand, ein Film, der nicht auszuhalten ist – Letzterer im allerbesten Sinne.

■ „Possession“. Brotfabrik, 8.–11. 8., 22 Uhr, 12.–14. 8., 20 Uhr; Programm: www.brotfabrik-berlin.de