: Rechte der Patienten überrollt
Jetzt demonstrieren auch NRWs TherapeutInnen: Weil Ärzte immer weniger Therapien verordnen, gehen ihre Praxen pleite. PatientenvertreterInnen: „lebensgefährliche Entwicklung“
VON MIRIAM BUNJES
Die Proteste gegen die Sparpolitik im Gesundheitsbereich weiten sich aus: Nordrhein-Westfalens KrankengymnastInnen, Sprach- und BewegungstherapeutInnen wollen heute bei der Kassenärztliche Vereinigung (KV) Nordrhein in Düsseldorf protestieren. „Die Ärzte verschreiben kaum noch Therapien“, sagt Jürgen Querbach, Geschäftsführer des nordrhein-westfälischen Verbands für Physiotherapeuten und Krankengymnasten (ZVK). „Das bringt Patienten in Lebensgefahr und verurteilt sie zu einem Leben mit kaum erträglichen Schmerzen.“
Tatsächlich haben ÄrztInnen in NRW seit Jahresbeginn rund 70 Prozent Therapien weniger verschrieben – in einigen Städten am Niederrhein wurden in diesem Jahr fast gar keine PatientInnen mehr zu Sprach- oder Bewegungstherapeuten geschickt. Grund ist eine Änderung in der Heilmittelverordnung des Sozialgesetzbuches, die in NRW seit Anfang des Jahres umgesetzt wird. ÄrztInnen können seitdem nicht mehr unbegrenzt Heilmittel wie Krankengymnastik und Sprachförderung verschreiben. Jede Praxis hat ein festgelegtes Heilmittel-Budget. Überschreitungen der so genannten Richtgrößen führen zu Honorarkürzungen der ÄrztInnen.
„Bestimmte Praxen kriegen da Probleme“, sagt Karin Hamacher, Sprecherin der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). „Orthopäden müssen viel häufiger Therapien verschreiben als Allgemeinärzte und erreichen sehr schnell die Budgetgrenzen.“ Aus Unsicherheit hätten einige Ärzte Heilmittelverschreibungen fast ganz eingestellt.
Der ZVK will jetzt gegen einige von ihnen Strafanzeige erstatten. „Diese Reaktionen nehmen lebensgefährliche Formen an“, sagt Geschäftsführer Querbach. Der Verband habe zahlreiche Fälle von chronisch Kranken dokumentiert, denen die Ärzte keine Behandlung verordneten – obwohl sie nach physiotherapeutischer Diagnose ohne Krankengymnastik dauerhaft im Rollstuhl sitzen müssten.
Trotz dieser Kritik haben auch ÄrztInnen ihre Teilnahme an der Protestaktion angekündigt. „Bei der grundsätzlichen Kritik an der Verordnung sind wir einer Meinung“, sagt Querbach. „Es kann nicht sein, dass der Sparkurs im Gesundheitswesen Menschen notwendige Behandlungen verwehrt.“ Zudem seien mehr als 6.000 Arbeitsplätze in der Region akut gefährdet. „Kleinere therapeutische Praxen in ländlichen Gebieten stehen kurz vorm Aus“, sagt Querbach.
Die Kassenärztliche Vereinigung hat Verständnis für den Protest. „Wir sind aber die falschen Adressaten“, sagt Sprecherin Hamacher. „Wir vollstrecken schließlich nur die Gesetze, die wir nicht gemacht haben.“ Die Vereinigung der Kassenärzte bekomme für 2006 390 Millionen Euro für Heilmittel von den Krankenkassen zur Verfügung gestellt. „Das sind mindestens 30 Millionen weniger, als unsere Ärzte in den vergangenen fünf Jahren ausgegeben haben“, sagt Hamacher. „Natürlich kommt das bei den Patienten an.“
Die leiden sowieso schon unter dem Sparkurs, berichtet Judith Storf, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft PatientInnenstellen und PatientInnenberaterin in Bielefeld. „Viele Patienten beschweren sich“, sagt Storf. „Dabei sind gerade Schwerkranke wie Multiple-Sklerose- oder Krebspatienten auf konstante Heilmittelverordnungen angewiesen, um ein einigermaßen schmerzfreies Leben zu führen.“
Die KVen Nordrhein und Westfalen verhandeln seit Jahresbeginn mit den Krankenkassen über eine Aufweichung der Heilmittelverordnung. „Wir versuchen, Ausnahmeregelungen für chronisch Kranke auszuhandeln“, sagt Karin Hamacher. „Bislang ohne Erfolg.“