: „Mehr als 200 Leute wären nicht gekommen“
Das Verbot der Talat-Pascha-Demo war nachvollziehbar, sagt der grüne Abgeordnete Özcan Multu. Dass sich immer weniger türkische Zuwanderer für nationalistische Themen interessieren, sei ein Beispiel gelungener Integration
taz: Herr Mutlu, die Talat-Pascha-Demo wurde verboten – ist das Verbot berechtigt?
Özcan Mutlu: Wenn man die Erklärungen der Organisatoren betrachtet, ist es verständlich. Sätze wie „Wenn der Westen nicht aufhört, die Türkei zu beschuldigen, werden europäische Hauptstädte brennen“ sind Drohungen. Man könnte sie sogar als Gewaltaufrufe werten. Dennoch sehe ich das Verbot kritisch. Nationalistische Ultras werden nun versuchen, sich als Opfer aufzuspielen. Übrigens glaube ich, dass nicht mehr als 200 Leute gekommen wären.
Wieso glauben Sie das?
Weil dieses Thema nichts mit den Problemen der Berliner Türkinnen und Türken zu tun hat! Die Menschen in der Stadt haben ganz andere Probleme: schlechte Bildungschancen, Arbeitslosigkeit, mangelnde politische Teilhabe, Generationskonflikte usw. Als hier im Abgeordnetenhaus eine Veranstaltung zum Gedenken an den Völkermord stattfand, da hat lediglich eine Handvoll Menschen draußen demonstriert.
Wo findet ein Verein wie die Atatürkcüs denn seine Unterstützer?
Viele dieser Vereine haben überhaupt gar keine Basis. Die sind weder am Puls der Zeit noch der Bevölkerung. Aber das sind in Berlin vielleicht 20, 30 Leute. Und der Berliner Atatürk-Verein hat sich ja lobenswerterweise aus den Vorbereitungen der Demo zurückgezogen. Ich hoffe, dass sie sich nicht nur organisatorisch, sondern auch inhaltlich davon distanzieren. Daran müssen wir arbeiten.
Was heißt das?
Auch wenn so ein Thema die Massen nicht mobilisieren kann, haben viele Türken immer noch Probleme, die Tatsachen des Jahres 1915 zu akzeptieren. Egal was Historiker sagen: Es sind über eine Million Menschen gestorben. Dazu muss sich die Türkei bekennen.
Die Diskussion um die Demo findet vor dem Hintergrund einer ziemlich schlechten Stimmung zwischen Deutschen und türkischen Zuwanderern statt. Man knall sich derzeit einiges um die Ohren. Wie kommt das?
Subjektiv fühlen sich viele türkische Zuwanderer in Deutschland an den Pranger gestellt, Stichwort wäre etwa der baden-württembergische Muslimtest. Diese negative Stimmung wird auf beiden Seiten von bestimmten Gruppierungen angeheizt. Das ist Gift für die Integration.
Die wird derzeit allerorten für gescheitert erklärt.
Integration ist ein interaktiver Prozess. Einwanderungsgesellschaften sind konfliktbeladen. Wir haben Probleme: Zwangsheirat, Ehrenmorde, Anstieg der Jugendgewalt. Darüber diskutieren wir schon seit Jahren. Aber wir werden diese Probleme nur lösen, wenn wir an einem Strang ziehen. Wenn die Mehrheits- und die Minderheitsgesellschaft ihr gemeinsames Interesse daran entdecken, diese Probleme anzugehen.
Warum ist das so schwer?
Unser größtes Problem ist die mangelnde Teilhabemöglichkeit von Zuwanderern. Jeder zweite türkischstämmige Jugendliche in Berlin ist arbeitslos. Nur fünf Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund bekommen einen Ausbildungsplatz. Was wir brauchen ist Chancengerechtigkeit in der Bildung und auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Nur wer sich sicher sein kann, eine Perspektive für sich und seine Kinder zu haben, wird sich integrieren.
Wenn nur so wenig Leute zu der Demo gekommen wären, wie Sie vermuten, dann scheint es um die Integration doch gar nicht so schlecht zu stehen?
Bei den Demos vor der dänischen Botschaft waren auch immer nur eine Handvoll Leute. Das ist ein gutes Zeichen.
Interview Alke Wierth