: Zen-Kunst auf dem Minarett
DAS SCHLAGLOCH von HILAL SEZGIN
Es wäre einmal interessant zu wissen, woher die Protagonisten von Romanen und Fernsehfilmen eigentlich die Zeitungen beziehen, die sie des Morgens traditionell neben ihrem Orangensaft vorfinden. Gemütlich schlagen sie die Beine übereinander und die Zeitung auf – und verlustieren sich von Croissant zu Croissant mit weltpolitischer Lektüre.
In echten Haushalten geht es nicht so zu, insbesondere nicht in den ersten Monaten dieses Jahres. Da hatte der Zeitungsleser praktisch nur die Wahl zwischen Vogelgrippe und Fundamentalistenpest. Entweder er erfuhr zur frühen Stunde, dass die hiesige Zivilisation von Schwänen oder von Fanatikern bedroht war. In beiden Fällen kam das Übel aus Südsüdost, verdankte sich mal der Vogel-, mal der modernen Völkerwanderung; Kriegsmetaphern erblühten wie Narzissen in Wordsworth-Versen, und zwischen Rügen und Ramallah waren wehrhafte Typen wieder gefragt.
Während die Jäger derzeit Gewehrläufe putzen, um streunende Katzen zu erlegen, scheint der vom Karikaturenstreit zum Kulturkampf geadelten Diskussion allerdings langsam die Puste auszugehen. Überraschend, wie sie überhaupt so lange durchgehalten hat. Wie selbstgenügsam und nur von der eigenen Lustangst befeuert Europas Kulturverteidiger diskutieren konnten – ohne dass ihnen irgendjemand anderes wirklich widersprach. Niemand im eigenen Lande jedenfalls, und die anderen sind ja eigentlich zu weit weg.
Ein deutscher Journalist, der aufgebrachte Demonstranten im Nahen Osten für seine eigentlichen Diskussionspartner gehalten hätte, dürfte wohl einem Missverständnis bezüglich des Einflussgebietes deutscher Medien erlegen sein. Mir jedenfalls scheint es recht unwahrscheinlich, dass ein Trupp pakistanischer Gewürzverkäufer, der Müntefering für den dänischen Ministerpräsidenten hält, von einem Zweispalter in einer deutschen Tageszeitung überzeugt werden kann, die entsprechende Puppe nicht in Brand zu stecken.
Doch selbst wenn die Kommunikationswege mit einem Mal derart kurz geraten wären, bliebe die Aufregung der letzten Wochen noch erstaunlich genug. Selten wird nämlich das Unbehagen der Bürger eines weit entfernten Landes hierzulande zum Anlass genommen für längere Grundsatzdebatten. Nicht mit auch nur annähernd ähnlicher Vehemenz wurde zum Beispiel die flehentliche Bitte afrikanischer Aids-Bekämpfungs-Initiativen diskutiert, das Patentrecht bei Medikamenten aufzuheben. Dabei stehen im wahrsten Sinne des Wortes Millionen Leben auf dem Spiel, die gegen das Recht eines Erfinders an seinem geistigen Eigentum abzuwägen deutsche Zeitungen durchaus interessieren sollte.
Die naheliegende Überlegung ist natürlich: Die Diskussion der vergangenen Wochen hat man gar nicht mit den Muslimen in der Ferne geführt. Auch nicht mit denen vor Ort. Man hat untereinander diskutiert, mal versucht, die anderen anzustacheln, dass die Lage ziemlich schlimm und gefährlich sei, mal sich selbst gut zugeredet, dass alles bald wieder in Ordnung kommen werde. Zwei, drei Jahre nachdem sich die Rede von der Einwanderungsgesellschaft auch in Deutschland langsam eingebürgert hat, veranstaltet man eine Art Kassensturz, bei dem man alles auf den Tisch schüttet, prüft und sortiert.
Nun finden sich in jeder Kasse verbogene Sicherheitsnadeln und Knöpfe, die irgendjemand mal vom Fußboden aufgehoben hat und für die das passende Hemd längst nicht mehr existiert. Und so ist auch in diesem Fall manches Erstaunliche an die Oberfläche gekommen. In einem großen Essay hat ein evangelischer Theologe kürzlich die grundsätzliche Frage, ob es einen europäischen Islam geben könne, mit „höchstwahrscheinlich nein“ beantwortet – mit einer Entschiedenheit übrigens, die beeindruckte, zumal dieser Theologe sonst nicht sehr viel über den Islam zu wissen schien.
Über die Prognose kann man immerhin streiten: Ist es denn nicht eher wahrscheinlich, dass gerade von Europa eine Modernisierung des Islam ausgehen wird? Sicher, ein Teil der hier lebenden Muslime ist bedauernswert empfänglich für einen pseudoorthodoxen „fundamentalistischen“ Islam, wie er von manchen Hodschas beworben wird. Doch es gibt eben auch die anderen Muslime, die den Koran selber studieren, in deutscher Übersetzung, die mit der Zen-Kunst, „ein Motorrad zu warten“, aufgewachsen sind und den Weihnachtsansprachen Johannes Pauls II. Und je mehr von ihnen die Klassenschranken Abitur und Hochschulabschluss überwinden werden, desto stärker werden sich Formen des Islam verbreiten, die schon heute für viele der hier aufgewachsenen türkischstämmigen Akademiker selbstverständlich sind. Formen, die in weiten Teilen von der nichtmuslimischen Umgebung, in anderen Teilen nach individuellem eklektizistischen Gusto modelliert sind.
Außerdem sollte man den Teil der Muslime nicht unterschätzen, die zwar als Muslime aufgewachsen sind wie manch andere als Christen, die noch das Mofa zur Konfirmation „mitgenommen“ haben. Aber dann: Kirche/Gebetsteppich – nie wieder! Diese Möglichkeit zieht offenbar jene Zeitung gar nicht erst in Betracht, in der sich neuerdings die demografischen Ängste eines ihrer Herausgeber mit der allgemeinen Islamophobie verbinden. Denn in sehr wenigen Jahren könnten sehr viele Millionen Einwohner Deutschlands Muslime sein. Virus! Alarm!
Die Unterstellung dahinter muss wohl lauten, dass all diese Millionen die falsche Sorte, also sozusagen einen uneuropäischen Islam, praktizieren. Würde nämlich der „europäische“, also ein demokratiekompatibler, großzügiger und toleranter Islam vorherrschen, wäre es ja nicht schlimm, wenn er viele Millionen Anhänger hätte. Oder gibt der Islam etwa per se eine schlechtere Vorlage für religiöses Denken ab als andere, hier länger verankerte Religionen? Gibt es eine naturwüchsige Verpflichtung der deutschen Scholle zum Christentum? Würde es sich vielleicht gar lohnen, den deutschen Nachwuchs zum Kirchgang aufzufordern, genau wie deutsche Frauen zum Gebären anzuspornen, damit die Fremden nicht bald in der Überzahl sind?
Immer wieder offenbart sich hinter alldem die sonderbare Vorstellung, dass die ganze Welt in Bewegung und Veränderung ist – und der einzige Kontinent, der davon unberührt bliebe, wäre ausgerechnet (West-)Europa. Aus der ganzen Welt will Europa Güter beziehen und eigene Technologien dorthin verkaufen; unterbezahlte Frauen aus aller Welt sollen für hiesige Männer die Beine spreizen und ihren Frauen beim Putzen helfen – doch Gott behüte, dass deren Sprache, deren Sitten, deren Träume die Seele unserer Kinder erreichen mögen.
Der ganzen Welt hat Europa den Stempel seiner Kultur und Rechtsvorstellungen aufgeprägt, doch wird in deutschen Innenstädten eine Moschee gebaut, erklingt ein Klagen, als sei der Ruf vom Minarett so unwiderstehlich und Verderben bringend wie der Gesang der Sirenen. Von europäischem Selbstbewusstsein spricht solche Fremdenangst eigentlich nicht – aber man weiß nicht, ob das endlich eine gute oder doch nur wieder eine schlechte Nachricht ist.