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Archiv-Artikel

Für immer verdächtig

SICHERUNGSVERWAHRTE Nach ihrer Entlassung sind sie freie Menschen – theoretisch. Sobald sie geoutet werden, sind ehemalige Sicherungsverwahrte einem Hexentreiben ausgesetzt. Hinter dem Hamburger Hafen lebt einer von ihnen außerhalb des Dorfes Moorburg – unter Polizeischutz ➤Schwerpunkt SEITE 44,45

Bei fünfzehn Prozent liegt die Rückfallquote entlassener Sicherungsverwahrter – und damit nicht höher als die von Entlassenen aus dem regulären Strafvollzug. Die Rückfallquote von Sexualstraftätern liegt noch niedriger. Keine Frage: Das macht die Taten, die stattfinden, um nichts besser, das Leid der Opfer nicht geringer. Aber es bleibt frappierend, warum die schlichten Fakten in der Diskussion um entlassene Sicherungsverwahrte so wenig gehört werden. Warum eine Gesellschaft, die hundertprozentige Sicherheit einfordert, zugleich so wenig weiß über das Gefahrenfeld, von dem sie sich bedroht fühlt.

Das Interesse kocht hoch, sobald etwas passiert, sei es, dass ein entlassener Sicherungsverwahrter als solcher von den Medien öffentlich gemacht wird, sei es, dass jemand rückfällig wird. Auch das politische Interesse scheint diesen Zyklen zu unterliegen: Bei der Neuregelung der Gesetze zur Sicherungsverwahrung soll im Bundestag vor leeren Bankreihen debattiert worden sein.

Was bleibt, ist der Druck auf diejenigen, die die Öffentlichkeit verantwortlich macht für mögliche Rückfalle: die Gutachter, die Gerichte, die Polizei, die Politik. Wo Boulevardzeitungen Richter nach Entlassungen attackieren, wo Gutachter sich darauf einrichten, dass die sie beauftragenden Gerichte negative Prognosen bevorzugen, die eine Entlassung verhindern, kann man nur hoffen, dass die Entscheidungen möglichst objektiv blieben – und wird durch die Studie des Kriminologen Michael Alex eigentlich eines Besseren belehrt: Bei allen von ihm untersuchten Fällen hatte zumindest ein Gutachter eine Negativ-Prognose gegeben. In 85 Prozent der Fälle zu Unrecht.

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich mit dem Unwägbaren nicht abfinden will. Die, so der Konsens, einen gewissen Anteil potenziell Unschuldiger einsperrt, weil eine Minderheit wieder straffällig wird. Das ist zu einem gewissen Grad verständlich, aber eben nur bis zu einem gewissen. Es ist schlichtweg dumm, Häftlinge, die potenziell eines Tages entlassen werden können, darauf nicht vorzubereiten. Denn genau das erhöht die Rückfall-Gefahr. Es ist dumm, wenn Journalisten behaupten, dass sie nur deshalb entlassene Sicherungsverwahrte als solche publik machen, um Straftaten an Kindern zu verhindern. Was sie verhindern, ist Resozialisation. Es ist fatal, wenn eine Gesellschaft vollständige Sicherheit erwartet, weil es dazu führt, dass niemand mehr Verantwortung übernehmen will.

Natürlich müssen Gutachter, die schlichtweg handwerkliche Standards nicht beachtet haben, zur Rechenschaft gezogen werden – und es mag ein Vorteil der erregten Diskussion gewesen sein, dass es diese Standards inzwischen gibt. Wie etwa das direkte Gespräch des Gutachters mit dem Häftling, was man – zu Unrecht – für eine Selbstverständlichkeit gehalten hätte. Aber kein Gericht, kein Gutachter, kein Bewährungshelfer, kein Polizist kann garantieren, dass ein Entlassener rückfällig wird – wer es von ihm erwartet, zwingt ihn nahezu zu einer „Ich bin nur ein Rad im Getriebe“-Haltung und zu größtmöglicher Restriktion.

Niemand behauptet, dass der Umgang mit Sicherungsverwahrten ein einfach zu lösendes Problem sei. Man kommt in grundsätzliche Gewässer, wenn man hier über die Verhältnismäßigkeit der Mittel nachdenkt, im Grunde ist es die Frage, ob Gott Sodom wegen der zehn Gerechten verschonen soll, nur unter umgekehrten Vorzeichen.

Nach der Entlassung wird es nicht einfacher: Da steht dann die Tatsache, dass die Entlassenen freie Bürger sind, dem Wunsch der Gesellschaft nach engmaschiger Kontrolle entgegen. In einigen Bundesländern ist letzteres durch verbindliche Weisungen der Führungsaufsicht eingelöst – und dient vielfach der Resozialisation. Die Quadratur des Kreises ist nicht möglich in diesem Feld – aber man ist ein Stück weiter gekommen.  FRIEDERIKE GRÄFF