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Archiv-Artikel

Die Frühjahrslese fällt üppig aus

Buchmessern (2): Der Hype ums Schriftstellertagebuch wird zur Unzeit ausgerufen. Zu entdecken sind in Leipzig vor allem tolle Romane

Das Schöne an so einer Buchmesse wie der Leipziger ist, dass alle, die mit ihr zu tun haben, sich ins Zeug legen. Das heißt für die Messeleitung, die aktuelle Messe für die allerbeste und allererfolgreichste zu erklären, das heißt für Buchhandel und Verlage nicht zu klagen, sondern höchstens zu seufzen, zumindest vier Tage lang, und das heißt für Feuilletons und Literaturkritik, den neuesten Renner auf dem Buchmarkt zu entdecken.

Letzteren gibt es nie. Das aber hält ein auf Wirbel, Rock und Matussek abonniertes Magazin wie den Spiegel nicht davon ab, in seiner neuesten Ausgabe die diversen Tagebücher diverser meist sehr alter oder gar toter Autoren (Schleef) und Autorinnen als den allerneuesten Renner ausgerechnet dieses Frühjahrs zu entdecken: „Überhaupt sind Journale in der deutschen Literatur derzeit sehr beliebt.“

Zum Beispiel das von Walter Kempowski, der schon ewig Tagebuch schreibt und mit „Hamit“ gerade seinen dritten Tagebuchband veröffentlichen konnte. Im Übrigen einen, der sich allein um das Jahr 1990 dreht. Oder der von Peter Handke, der im Juli letzten Jahres erschien, was aber nichts weiter macht, geht es in ihm doch um die Empfindungen und Erlebnisse Handkes in den Jahren 1987 bis 1990 (zumal: Es ist sein fünftes). Und Martin Walsers erste Tagebuchlieferung stammt ebenfalls bereits aus dem letzten Jahr; es sind Walsers Notizen aus den Fünfzigerjahren. So viel zur brandaktuellen Beliebtheit von Tagebüchern, so viel dazu, dass ein Land brandaktuell seine Befindlichkeit in Schriftstellertagebüchern entdeckt.

Man schaut sich dann doch lieber in der aktuellen Romanproduktion um, in der aus aller Welt und jetzt auf Deutsch vorliegenden im Allgemeinen und der aus Deutschland im Speziellen. Trends gibt es keine, höchstens die üblichen. Festhalten aber lässt sich, dass dieses Frühjahr mehr zu bieten hat als angenommen. Dass es viel mehr Spaß macht zu sichten als im Herbst, da die Verlage mit ihren Muskeln spielten und ein Großangebot von Großautoren auffuhren, an denen es kein Vorbei gab. Das ist in diesem Frühjahr anders, es ist mehr ein Frühjahr der Entdeckungen. Wie César Airas Borges-Variation „Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo“, Charles Lewinksys toller Familienroman „Melnitz“ oder Per Pettersons leiser Nordlandroman „Pferde stehlen“. Wie die Bücher von Paul Auster, John Updike und Nicholas Shakespeare – keine Entdeckungen mehr, aber ansprechende Romane von Autoren, die fast jedes Jahr ein Buch veröffentlichen.

In der deutschsprachigen Literatur ist die Situation nicht anders: Nach Kehlmann, Geiger und Schulze hatte man einen Durchhänger erwartet, doch allein die Nominierungsliste für den heute Abend verliehenen Preis der Leipziger Buchmesse beweist, dass dieses Frühjahr ein gutes ist. Man könnte ja an jedem der fünf nominierten Belletristiktitel etwas aussetzen: Clemens Meyers „Die Bronx ist in Leipzig nach der Wende“-Roman „Als wir träumten“ ist zu lang, Paul Ingendaays Internatsroman ideologisch bedenklich, Judith Kuckarts Deutschland-Roman „Kaiserstraße“ zu leblos und artifiziell, Thomas Langs „Am Seil“ nur eine Fingerübung und kein Weitwurf und Ilija Trojanow zu ausufernd (obwohl er doch nur ein Bruchteil von dem Leben des englischen Abenteurers Richard Burton erzählt).

Trotzdem haben sie allesamt ihre Qualitäten, lohnt es sich, jeden der fünf Romane zu lesen, und wenn man dazu die neuen Romane von Feridun Zaimoglu, Jakob Hein, Matthias Zschokke oder Elke Schmitter zählt (ja, warum wurden die eigentlich nicht nominiert, Jury?), und noch zwei, drei andere, die nach der Messe zwangsläufig entdeckt werden, (Frank Schulz beendet seine Hagener Trilogie, Joachim Lottmann sorgt für den absoluten Tiefpunkt), dann hat man eine üppige Frühjahrslese.

Es heißt also zu lesen, zu genießen, sich zu freuen, solange es geht. Denn das nächste Klagenfurter Bachmannlesen und damit das obligate Klagen über den traurigen Zustand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, das kommt ganz bestimmt. GERRIT BARTELS