: Lebenslang Chaostage
Kein Roman, sondern die Biografie eines charismatischen Totalversagers: Der englische Schriftsteller Alexander Masters hat ein Buch über „Das kurze Leben des Obdachlosen Stuart Shorter“ geschrieben
von SEBASTIAN DOMSCH
Stuart Shorter nervt. Das ist so ziemlich das Einzige, was Stuart wirklich gut kann. Er ist ein Versager auf ganzer Linie, aber er betreibt dieses Versagen mit einer hartnäckigen Gründlichkeit. Darum nervt er, durch den Ärger, den er ständig bereitet, und durch das Mitleid, das er trotzdem immer wieder verdient. Er nervt gerade in den Momenten, in denen in seinem Leben das Menschliche durchscheint. Wenn also der „Ex-Penner, Ex-Junkie und Psychopath“ Stuart Shorter mit der Vorliebe für Messer und Selbstverstümmelung den Leser durch seine noch im Verlierertum charismatische Art gefangen nimmt und für kurze Zeit verzaubert. Denn dann kann man ihn nicht mehr am Straßenrand liegen lassen wie die anderen Obdachlosen.
Es ist ein merkwürdiges Buch, das der englische Schriftsteller Alexander Masters geschrieben hat. „Das kurze Leben des Stuart Shorter“ war in England als Biografie sehr erfolgreich, gewann Preise und brachte dem Problem der Obdachlosigkeit neue Aufmerksamkeit. In Deutschland wird das Buch als Roman verkauft, mit dem paradoxen Effekt, dass die Geschichte teilweise klischeehaft und oft übertrieben wirkt. Als Romanfigur ist Stuart unglaubwürdig, als unwahrscheinliches Subjekt einer Biografie ist er unglaublich.
Stuart mag ein kurzes Leben gehabt haben, aber dieses kurze Leben ist so randvoll von selbstzerstörerischen Katastrophen und abgrundtiefen Dummheiten, dass er sich einen Darwin Award fürs Lebenswerk redlich verdient hätte. Selbst in der Unterwelt der Obdachlosen und Drogenabhängigen belegt er den tiefsten aller Höllenkreise. Denn er gehört zu den „chaotischen“ Obdachlosen, jenen praktisch unrettbaren Gestalten, die nicht Familienväter waren und nach einem schrecklichen Unglück ins Schleudern geraten oder durch Mangel an Bildung verarmt sind. Die „Chaoten“ haben niemals einen Weg gehabt, von dem sie hätten abkommen können, oder ein Leben, in das man sie zurückführen könnte: „Sie brauchen keine Wohnung und keine Arbeit; sie brauchen ein neues Gehirn.“
Und doch, als der Erzähler und Schriftsteller Alexander, der zeitweise für ein Obdachlosenheim arbeitet, Stuart näher kennen lernt, scheint es ganz so, als würde sich dessen Leben gerade ordnen, samt eigener Wohnung und Methadonprogramm. Ihre schwierige Freundschaft entwickelt sich aus dem gemeinsamen Engagement für die Freilassung von Ruth Wyner und John Brock. Die beiden Leiter des Obdachlosenheims „Wintercomfort“ wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, nachdem eine Kamera ein Drogengeschäft auf dem Hinterhof des Heims gefilmt hatte. Die Richter legten das als „Duldung von Drogenhandel“ aus, und die beiden wanderten umgehend hinter Gitter. Stuart setzt sich mit Eifer für die beiden ein, mit Gefängnissen kennt er sich bestens aus, hat er doch sein halbes Leben in ihnen verbracht, zuletzt fünf Jahre für einen Raubüberfall, bei dem er ganze 500 Pfund erbeutet hatte. Alexander erkennt schnell, dass er in Stuart genug Material für ein außergewöhnliches Buch geliefert bekommt. Er beginnt, über Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit und Muskeldystrophie zu recherchieren und an einer Biografie zu arbeiten.
„Das kurze Leben des Stuart Shorter“ ist allerdings nicht diese Biografie, denn Stuart selbst bezeichnet den ersten Versuch gleich zu Beginn des Buchs als „stinklangweilig“ und erklärt kategorisch, so könne man das alles nicht schreiben. Alexander bleibt nichts übrig, als alles noch einmal zu schreiben, allerdings nicht „so im Stil von Tom Clancy“, wie Stuart es gerne hätte, sondern rückwärts. Wenn auch der originale Untertitel „A Life Backwards“ etwas irreführend ist, so springen die biografischen Kapitel doch immer weiter zurück in Stuarts Vergangenheit. Abgelöst werden diese Kapitel durch Schilderungen der schwierigen Freundschaft zwischen dem ehemaligen Obdachlosen und dem Verlegenheitssozialarbeiter.
Denn Stuart nervt: die Menschen, mit denen er täglich zu tun hat, den Leser mit seiner Lebensgeschichte, aber eben immer wieder auch Alexander, den Erzähler dieser Lebensgeschichte. Gerade dies rettet das Buch vor der Betroffenheitsfalle, denn es kommt ohne den geringsten Hauch von Political Correctness aus. Trotz der umgedrehten Chronologie, die gar nicht anders kann, als schließlich ursachenforschend bei Krankheit, Missbrauch und frühem Leid anzukommen, stellt sich zu keiner Zeit Betroffenheit ein. Denn wenn das leicht herablassend mitfühlende Herz vor Gutmenschentum anschwellen will, lässt Masters ihm mit der Nadel seines bitterbösen Humors regelmäßig die Luft raus. Er spart nicht mit sarkastischen Kommentaren und bissigen Bemerkungen, wenn er an seinem eigenen Buch verzweifelt, an der Schwierigkeit, Obdachlosen wirklich zu helfen, und vor allem an der Unmöglichkeit Stuarts.
Das Buch ist eine einzige Paradoxie, die beständige Frustration aller Erklärungsversuche. Wie wird man so wie Stuart? Dauernd scheint es, als wäre das keine Frage des Werdens, sondern des Seins. Stuart ist, wie er ist, ob das Alexander (oder dem Leser) passt oder nicht. Alexander kann Stuart nicht verstehen, dem Leser geht es genauso, und wieso auch, Stuart versteht sich ja selbst nicht. Das Phänomen der Obdachlosigkeit ist nicht restlos erklärbar, das ist eine zentrale Aussage des Buchs. Es ist aber besser, sich damit zu beschäftigen, und auch, sich darüber aufzuregen, als es zu ignorieren. Wie gesagt: Stuart nervt, aber er existiert, und wenn man sich auf ihn einlässt, wird man mit ruppiger, aber menschlicher Herzlichkeit belohnt, wie man ihr nur selten begegnet. Dasselbe lässt sich über Masters’ Buch sagen.
Alexander Masters: „Das kurze Leben des Stuart Shorter“. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. Kunstmann, München 2006, 320 Seiten, 19,90 €