: „Ich habe versucht hetero zu werden“
Junge Homosexuelle treffen immer noch auf die gleichen Vorurteile wie vor 30 Jahren, auch in den Schulen. In Kleinstädten fehlen Beratungsstellen und von der Gesellschaft akzeptierte Vorbilder. Den Jugendliche bleibt nur das Internet als Informationsquelle. So wird die eigene Identität zum Drahtseilakt
von Farid Gardizi
Kribbeln im Bauch, schwitzende Hände, das Herz rutscht in die Hose. Der Blick oder die kurze Berührung eines anderen Jungen konnte genügen, um ein Gefühlschaos auszulösen. Kai* war 13 Jahr alt, als er bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. „Als ich das gespürt habe, ging’s mir richtig Scheiße damit. Denn die Jungs in meiner Klasse guckten den Mädels immer hinter her, haben viel über Frauen geredet und kriegten so langsam ihre Freundinnen – ich wollte dazu gehören, aber es ging nicht.“
Kai erlebte diese Zeit wie in Trance. Er wohnte damals in Stade, einer Kleinstadt in Niedersachsen mit rund 45.000 Einwohnern. Schwul sein war dort kein Thema, geredet wurde darüber schon gar nicht. Damit begann für ihn eine Phase voller Umwege, Selbstzweifel und Einsamkeit. „Ich habe wirklich versucht hetero zu werden. Ich habe mir Mädels angeguckt, aber das hat überhaupt nicht funktioniert“, erzählt der heute 19-Jährige. „Meine Blicke sind immer wieder bei den Jungs gelandet. Da habe ich natürlich Angst gehabt, davon überhaupt jemandem zu erzählen.“
Einschlägige Untersuchungen zeigen: Jugendliche fürchten nichts so sehr als schwul oder lesbisch zu sein, egal ob auf dem Land oder in der Großstadt. Zwar gehören Schwule und Lesben heute zum Standard in fast jeder Soap, aber Rollenvorbilder im Alltag fehlen. Wer sich outet, riskiert immer noch viel. Kein Wunder: Das Wort „schwul“ gehört zu den beliebtesten Schimpfwörtern auf Fußballplätzen wie auf Schulhöfen. Die Schule selbst wird in einer Untersuchung des niedersächsischen Sozialministeriums von 2001 als „homophober Ort“ bezeichnet.
In weniger als 20 Prozent der Fälle hatten Schüler erlebt, dass Lehrerinnen und Lehrer Schwule verteidigten, wenn sie zur Zielscheibe von Spott und Hohn wurden. Rund 60 Prozent erfuhren üble Nachreden von Gleichaltrigen, 40 Prozent der befragten Schwulen wurden schon einmal in der Öffentlichkeit beschimpft, ebenso viele haben erlebt, dass sich Freunde zurückzogen. Die Studie kommt zum Schluss: Homosexualität ist immer noch mit dem gleichen Ausmaß an negativen Gefühlen verbunden wie vor 30 Jahren – trotz Schwulenbewegung.
Dabei können in den Großstädten Lesben und Schwule weitgehend entspannt leben, so wie es ihnen gefällt. Hier existiert die entsprechende Infrastruktur: Cafés, Buchläden und Geschäfte. Die Großstadt ermöglicht eine schützende Ghetto-Idylle. Außerhalb sieht das ganz anders aus.
Für Kai wurde das Internet eine lange Zeit die wichtigste Informationsquelle, die einzige Möglichkeit sich mit anderen über sein Schwulsein auszutauschen, Antworten auf seine Fragen zu finden. Wem kann ich mich anvertrauen? Wo gehe ich hin? Was passiert, wenn ich es sage? Die meisten Chat-Kontakte rieten ihm von einem Coming-Out ab, zu viele hatten negative Erfahrungen gemacht. „Weil ich nicht wusste was bei einem Coming-Out passieren würde, habe ich monatelang mit dem Gedanken gespielt, teilweise nächtelang durchgeheult“, erinnert sich Kai. „Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr“. Da war er 15 Jahre alt.
Kai wollte seine Gefühle nicht mehr verstecken. In einem Abwasch gestand er seinem besten Freund auch seine Liebe. „Glücklicherweise hat er locker reagiert, mir aber gleich gesagt, dass er nur auf Frauen steht“, erzählt Kai. „Ich konnte mit ihm aber darüber reden und das hat mir unheimlich geholfen“. Glück hatte Kai auch mit seiner Familie. Seine Eltern sind nicht gleich vor Schreck vom Stuhl gefallen. Auch seine Mitschüler und Lehrer reagierten zu seinem Erstaunen gelassen auf sein Coming-Out. „Es gab niemand der mich fertig gemacht hat.“
Ganz andere Erfahrungen hat Frank* (27) aus Hamburg-Harburg gemacht. „Viele Freunde haben den Kontakt einfach abgebrochen, weil sie damit nicht klar gekommen sind. Das hat natürlich sehr wehgetan. Nur mit zwei, drei Freunden konnte ich darüber überhaupt reden. Die finden es gut, dass ich mein Leben jetzt so lebe, wie ich es möchte.“ Der Weg dahin war lang. Schon mit 15 wusste Frank, dass er auf Jungs steht, aber erst als 25-Jähriger schaffte er den Sprung in ein befreites Leben.
Bis dahin hatte er ständig auf der Flucht vor sich selbst gelebt und sich deshalb immer wieder krank gefühlt. Mit aller Macht verdrängte er die Gedanken von schwuler Liebe und Sexualität. „Ich habe den Macker raushängen lassen. Dadurch habe ich versucht mein Schwulsein zu verstecken“,erinnert sich Frank. „Ich hatte auch immer wieder eine Freundin, damit hatte ich das Problem nicht mehr“.
Die eigene Identität wird zum Drahtseilakt: Jeder unvorsichtige Schritt kann das „Verkehrt sein“ verraten. Nach wie vor existiert in der Gesellschaft ein normierender Druck zur Heterosexualität. Hinzu kommt die ansteigende Aggression gegenüber Minderheiten im Zeitalter von Hartz IV.
Gerade die Schule, die in ihrer Funktion grundlegenden Einfluss auf eine differenzierte Meinungsbildung haben könnte, versteht sich nicht als Institution von Vielfalt. Zu diesem Ergebnis kommt der Erziehungswissenschaftler Uwe Sielert in einer Studie von 2004. So sei zum Beispiel das Thema Homosexualität im Unterricht immer noch ein Tabu. Auch schwule Lehrer und lesbische Lehrerinnen hätten große Probleme, sich zu outen.
Eine Ahnung von der fehlenden Auseinandersetzung mit dem Thema hat Kai bekommen, als er in der Berufsschule ein Referat über das Aids-Virus HIV und sexuell übertragbare Krankheiten vorschlug. „Meine Lehrerin meinte einfach, nö, das steht nicht im Lehrplan, darüber wird in den Medien schon genug geredet und außerdem betrifft Aids sowie so nur Homosexuelle.“
Ablehnung und Normalität liegen nah beieinander. Zwar hat die Toleranz und Offenheit gegenüber Homosexuellen mit der politischen Korrektheit in den letzten Jahren zugenommen, aber der eigene Sohn oder die eigene Tochter darf es dann Bitte doch nicht sein. Gründe dafür gibt es viele: die Angst vor den Nachbarn, das Gefühl, als Eltern versagt zu haben, der Wunsch nach Enkelkindern und Normalität.
„Bis heute wissen meine Großeltern nichts davon. Auch sonst reden meine Eltern mit anderen nicht gerne darüber“, sagt Frank. „Mein Bruder hat auch zwei Jahre nach meinem Coming-Out ein Problem damit. Bis jetzt hat er mit mir darüber nicht geredet“.
Wie zerbrechlich die vielbeschworene Toleranz gegenüber Homosexuellen ist, zeigt eine Studie der Berliner Senatsverwaltung von 1999. Bei einer Befragung unter jüngeren Schwulen gaben 18 Prozent an, schon einen Suizidversuch hinter sich zu haben. Rund 60 Prozent dachten schon mal darüber nach die Klinge anzusetzen.
*Namen von der Redaktion geändert