: Der Status quo ist nicht zu halten
ÄGYPTEN Wenn die Protestlager geräumt werden, würde der alte Polizeiapparat zum Einsatz kommen. Das ist delikat, denn bislang hat der sich jeglicher Reform mit Erfolg entzogen
Menschenrechtler Karim Ennara
AUS KAIRO KARIM El-GAWHARY
Noch geht es friedlich zu im Protestlager der Pro-Mursi-Demonstranten in Kairo. Hinter einer Verteidigungslinie aus Sandsäcken spielen ein paar Bärtige in der sengenden Hitze Fußball. Im Lager selbst hämmern sie bis zu zweistöckige Holzkonstruktionen zusammen, über die sie dann den Zeltstoff spannen. Nach 40 Tagen Protest richtet man sich dort immer häuslicher ein, auch als ein Zeichen, dass hier niemand gedenkt wegzugehen, bevor der Präsident Muhammad Mursi zurück in Amt und Würden ist.
Alle wissen, dass der Status quo nicht zu halten ist. Entweder muss eine politische Lösung her oder die Protestlager müssen geräumt werden. Während hinter den Kulissen nach einem politischen Ausweg gesucht wird, bereitet die Polizei die Anwohner rund um das große Protestlager der Islamisten auf die Räumung vor. Die Bewohner des Viertels sind angewiesen worden, alle Eingänge zu verschließen, sobald die Polizei mit der Räumung beginnt. Der Druck, nicht zu räumen, bleibt aber international dennoch groß.
Auffällig ist, dass der Sicherheitsapparat sich bisher zurückhält, auch weil er Angst hat, glaubt der Menschenrechtler und Experte für das Innenministerium Karim Enara. „Für die Polizei wird es schwer, so große Proteste aufzulösen. Am Anfang gab es bei den Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften, als nur ein paar Tausend Demonstranten dort standen, mindestens 90 Tote“, blickt er zurück. „Heute sind viel mehr Demonstranten dort und eine Räumung hätte viel mehr Tote auf allen Seiten zur Folge“, glaubt er.
Für Muhammad Mahfouz, einem Expolizeioffizier, der eine Initiative gegründet hat zur Reform des Innenministerium, hat die Polizei bereits im Vorfeld versagt, als sie die Zugänge zu den Protestlagern nicht kontrolliert und nach Waffen gesucht hat. Er schlägt wie viele andere Sicherheitsexperten eine Belagerung vor, durch die weiterer Zugang verwehrt wird, bevor Strom und Wasser abgestellt werden.
Enara glaubt nicht, das so etwas funktionieren könnte. Auch eine Belagerung hätte das Potential, schnell zu eskalieren, sagt er. Sobald dort der erste Polizist auftaucht, fliegen Steine und dann wird zurückgeschossen. Das sei nicht unbedingt die Taktik der Polizei, aber solche Zusammentreffen entwickeln meist ihre eigene Dynamik, sagt er.
Eigentlich hatte Mahfouz mit seiner Initiative „ehrenwerter Polizeioffiziere für Reform“ einen Wandel des Sicherheitsapparates gefordert. Die Polizei sollte entmilitarisiert und von der Staatssicherheit institutionell getrennt werden. Ein Innenminister dürfe niemals aus dem Apparat selbst kommen; statt auf unbedingten Gehorsam sollten die jungen Polizisten in der Beachtung der Menschenrechte geschult werden, fordert er seit zwei Jahren. Nichts dergleichen ist geschehen. „Die Polizeiführung ist glücklich, weil die Ereignisse ihr die Gelegenheit gibt, einfach unbehelligt so weiterzumachen wie bisher, ohne jegliche Reform“, bedauert er.
Auch Enara hat viele konkrete Ideen, wie der Apparat reformiert werden könnte. Er hat dazu bereits vor zwei Jahren eine 20-seitige Studie verfasst. Der einfachste Schritt wäre, den Gebrauch von Schusswaffen neu zu regeln. Dazu bräuchte man kein neues Gesetz, sondern nur eine neue Verordnung im Ministerium, die viele Menschenleben retten würde. Bisher gilt: Wenn mehr als fünf Menschen zu einer illegalen Demonstration zusammentreffen, darf ein Polizist von der Schusswaffe Gebrauch machen, wenn er die nationale Sicherheit gefährdet sieht. „Das Problem ist, dass weder die Militärführung noch die Muslimbruder, die nach Mubarak an der Macht waren, an einer Reform des Sicherheitsapparates interessiert waren. Sie alle wollten den Apparat nur in ihrem Sinne nutzen“, erklärt der Menschenrechtler. „All unsere Bemühungen für eine Reform haben bisher nichts gebracht. Und in dieser Zeit der politischen Polarisierung wird es noch schwerer, etwas durchzusetzen“, meint er.