Der Antipolitiker

IN MEMORIAM Vom Kultur- wissenschaftler zum Politiker: über Lothar Bisky, der im Alter von 71 Jahren starb

VON STEFAN REINECKE

„Ich bin nicht der Lehrer der Linkspartei. Ich bin auch nicht der, der alles besser weiß.“ sagte Lothar Bisky 2012 der taz. Es war ein typischer Satz, der sein Credo zusammenfasste: Misstrauen gegen Verkünder der Wahrheit. Die wollte er im Plural.

2012 trat er als Chef der Linken-Fraktion im Europäischen Parlament zurück. Er mochte die Arbeit dort sehr, das Offene, Internationale. Aber er wollte Platz machen für Jüngere. „Es ist falsch, wenn die Älteren alles dominieren“, sagte er. Das war eine Reflexion seiner Erfahrung der DDR, die an der engherzigen, ängstlichen Herrschaft der Alten über die Jungen zugrunde gegangen war. Auch seine Begeisterung für Europa speiste sich aus der Erfahrung des Engen, Abgeschlossenen.

Lothar Bisky war 1959 einen ungewöhnlichen Weg gegangen: von der Bundesrepublik in die DDR. Er wurde 1963 SED-Mitglied, überzeugt, nun im besseren Teil Deutschlands zu leben. Wie viele Intellektuelle erlebt er den Realsozialismus als langwierigen Abnutzungsprozess, in dem die Illusion, auf der Seite des welthistorischen Fortschritts zu kämpfen, millimeterweise schrumpfte. 1986 wurde er Rektor der Filmhochschule in Babelsberg. Er versuchte die Studenten vor Repressionen zu schützen und Freiräume zu schaffen. Er hatte Antennen für Jüngere, schon damals.

Am 4. November 1989 redete er vor Hunderttausenden auf dem Alexanderplatz. Ein etwas schüchtern wirkender Mann trat da ans Mikrofon. Er forderte mehr Kreativität und Demokratie, ermutigte die Studenten und kritisierte seine eigene Generation, die sich mit den Verhältnissen arrangiert habe. Es war keine gute Rede. Er sprach zu leise und leiernd. Aber das passte. Die Bewegung formierte sich gerade erst, sie suchte noch nach Worten. Und die Grundmelodie, der vorsichtige Aufruf zum Protest, die sanfte Selbstkritik, stimmte.

Eher zufällig und halb unwillig wurde der Kulturwissenschaftler Politiker. Er war Parteichef, sogar zwei Mal, elf Jahre lang. Aber eigentlich war er kein Politiker. Ihm fehlte die Lust an der Intrige und dem krachenden Angriff auf den politischen Gegner. Seine murmelnd-verhuscht vorgetragenen Reden auf Parteitagen waren berüchtigt. Er war ein Mann der Grau- und Zwischentöne. Er war zurückhaltend, selbstkritisch, bescheiden – allesamt Eigenschaften, die für Politiker auf dem Weg nach oben nicht unbedingt förderlich sind.

Aber für die PDS war er in den 90er Jahren der Richtige. Es war die Mission der PDS, den abgewickelten DDR-Eliten den Weg in Bundesrepublik zu bahnen. Sie gab ihrem Gefühl, vom Westen gedemütigt zu sein, ein Ventil. Aber die PDS wurde nicht zur verbitterten Sekte, sie regredierte nicht zur Trutzburg von Diktatur-Nostalgikern. Dagegen imprägnierte die Debatte über die DDR, Mauer, Stasi. Und es war Lothar Bisky, der aus freien Stücken überzeugter DDR-Bürger gewesen war, der half, den Rückfall ins Doktrinäre zu verhindern – meistens jedenfalls.

Als im Jahr 2000 der Fundiflügel durchmarschiert war, gab er auf und bekundete, keine Lust mehr zu haben, der Partei als „Mülleimer“ zu dienen. Doch die PDS kam ohne Gysi und ihn mit sich selbst nicht klar. Sie verlor 2002 die Wahl und den Überblick. Es war hübsche Ironie, dass Bisky, damals schon 61, der gern Jüngeren Platz machte, halb widerwillig wieder auf die Bühne zurückkehrte. Für die Vereinigung mit der WASG zur Linkspartei 2005 wurde er, der Integrative, als Parteichef gebraucht. In den letzten Jahren entfernte sich Bisky zögerlich von der Partei. Der Verbalradikalismus der Westlinken und der autoritäre Habitus der Ex-SPDler um Lafontaine erinnerten ihn an ein ungutes Früher.

Im Osten war er anerkannt, in der PDS wurde er verehrt. Er verkörperte den pragmatischen Wandel hin zur Bundesrepublik, ohne die eigene Biografie zu verstecken.

Der Westen hingegen fremdelte mit ihm – mehr als umgekehrt. 2003 versuchten Medien ihm vergeblich eine Stasi-Verstrickung anzuhängen. 2005 nominierte die Linkspartei ihn als Vizepräsident des Bundestags. Schwarz-Gelb verhinderte, unterstützt von einigen Sozialdemokraten und gegen jeden parlamentarischen Comment, seine Wahl. Wegen seiner SED-Mitgliedschaft. Es war ein dummer, rechthaberischer Sieg.