Auf der Achse des ollen Koffers

Festival für Internationale Neue Dramatik: Ein Autorenprojekt erzählt entlang der Orient-Express-Trasse von Europa – und der Glückssuche

Auf der Bühne steht ein Zugwaggon, der Saal drumherum ist dunkel. Eine französelnde Zugbegleiterin teilt die Zuschauer in kleine Gruppen und weist sie verschiedenen Abteilen zu. Schon der tätowierte Schaffner flößt wenig Vertrauen ein: An seinem Uniformgürtel baumeln Handschellen und Schlagstock. Wir befinden uns, wie die Zugbegleiterin übers Mikrofon aufklärt, im Orient-Express, jenem legendären Zug, der einst von Paris nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, fuhr. Er durchquerte dabei Kulturräume, die nach 1945 zunächst füreinander so unerreichbar wurden wie der Mond.

„Orient Express“ ist auch das Motto des diesjährigen Festivals für Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne, das entlang der Achse Paris–Istanbul die Spielräume neuer europäischer Identität ausloten will. Wobei sich auch die Zugehörigkeit zum Schaubühne-Netzwerk positiv auswirken konnte – denn der verdanken wohl Richard Dresser und Mark Ravenhill, dass dem Zug noch ein amerikanischer beziehungsweise britischer Wagen angehängt wurde. Herzstück des Festivals ist das Autorenprojekt, das ebenfalls „Orient Express“ heißt. Es besteht aus Minidramen sechs verschiedener Autoren, die Enrico Stolzenburg eingerichtet hat.

Die Zuschauer haben in den Abteilen Platz genommen. Aus dem Fenster blickt man in eine Videoinstallation. Mal ziehen Landschaften vorbei, mal surreale Welten. Schon bald stellt sich eine Art Realitätsverlust ein. Zwar ist der dicke und schäbig gekleidete Mann, der jetzt das Abteil betritt und aus dessen ollem Koffer ein verschlissener Spielzeughund guckt, noch eindeutig als Figur zu erkennen, die sich die serbische Dramatikerin Biljana Srbljanovic ausgedacht hat – mit Komplexen von ähnlichen Ausmaßen wie der monströse Körper. Bald aber verschwimmen die Grenzen: Seine Aufdringlichkeit erzeugt Fluchtreflexe, die sich nicht von den in einer Zugsituation üblichen unterscheiden.

Man wird auf den Gang gebeten. In der nächsten Szene geht es weniger realistisch zu. Eine skurrile Figur mit Hitlerbärtchen, Bauhelm und grünen Rollerskates redet wirr über eitrige Wunden und einen Zugwaggon auf dem Grund des Ärmelkanals. Händl Klaus als Autor dieses Minimonologs führt die Mitreisenden an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Kein literarisches Juwel. Trotzdem fühlt man sich zunehmend als richtiger Reisender, kann Zuschauer und Schauspieler kaum noch unterscheiden.

Immer wieder steckt man mittendrin in einer kleinen Szene: Richard Dresser lässt einen kaschmirbemäntelten Drogendealer auf der Reise in die Türkei auf einen jungen Räuber treffen, der ihm eine Lektion in Sachen Moral erteilt. Der ungarische Dramatiker und Regisseur Akos Nemeth erfindet ein ungarisches Auswandererpaar, das sich über die Grenzen der Freiheit verkracht. Von Özen Yula stammt die Geschichte einer Begegnung zweier Homosexueller, die voneinander angezogen sind, sich aber nicht verständigen können, weil der eine nur Türkisch, der andere nur Bulgarisch spricht. Die schönste Miniszene aber hat der 1979 geborene Rumäne Peca Stefan geschrieben: Ein Mann (mit hinreißend schmieriger Melancholie gespielt von Felix Römer) verlässt mit fast fünfzig seine Familie, um in Amerika doch noch Jazzmusiker zu werden. Sein erwachsener Sohn stellt ihn vor der Abfahrt im Zug. In knapp fünfzehn Minuten erzählt die Szene die Geschichte eines verlorenen Lebens. Sie erteilt zwar bestimmt keine Lektion über Europa, spricht aber über die Sehnsucht nach Glück. Und über die Illusionsmaschine Theater.

ESTHER SLEVOGT

F. I. N. D. – 6. Festival für Internationale Neue Dramatik, noch heute und morgen, www.schaubuehne.de