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Archiv-Artikel

Ägypten bangt um seine Zukunft

SZENARIEN Wie wird die Muslimbruderschaft reagieren, wie die Armee? Geht es so aus wie einst in Algerien?

Berlin taz | Ob nach diesen Tagen der Gewalt eine Rückkehr zu demokratischeren Verhältnissen möglich sein wird, ist noch ganz unklar. Die Furcht vor einem Bürgerkrieg wächst. Hier drei denkbare Szenarien für die kommenden Monate und Jahre:

1. Muslimbrüder lenken ein

Die Muslimbruderschaft gibt ihre Totalverweigerung auf und versucht stattdessen ihren Einfluss im künftigen Ägypten zu sichern. Sie fordert nicht mehr, dass Expräsident Mursi wieder eingesetzt wird. Im Gegenzug kommen die inhaftierten Führer der Bruderschaft frei. Sie erhalten ihr eingefrorenes Vermögen und können politisch weiter aktiv sein. Zivile Politiker bleiben in der Regierung, das Militär zieht im Hintergrund die Fäden.

2. Blutiger Dauerkonflikt

Wahrscheinlicher ist: Das harte Vorgehen der Regierung mobilisiert die Sympathisanten Mursis erst recht. In Kairo und anderswo kommt es zu Demonstrationen und Scharmützeln mit Sicherheitskräften. Die Regierung reagiert mit Massenfestnahmen. Die Führungsriege der Muslimbruderschaft bleibt in Haft, Widerstand der Islamisten wird im Keim erstickt. Militärs und Überbleibsel des alten Regimes sichern sich Einfluss und Privilegien, während die Regierung den Schein des Rechtsstaats zu wahren versucht. Oppositionelle und Islamisten werden pauschal als Terroristen verfolgt.

Viele Ägypter unterstützen die Regierung trotz des Blutvergießens. Kritische Stimmen bleiben in der Minderheit. Religiöse Parteien dürfen höchstens marginal politisch mitreden. Die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder wird verboten. Die internationale Gemeinschaft akzeptiert diese Entwicklung – wie zu Zeiten des 2011 gestürzten Husni Mubarak.

3. Es kommt zum Bürgerkrieg

Vieles spricht gegen eine offene kriegerische Auseinandersetzung in Ägypten: Das Militär ist die mit Abstand stärkste Kraft im Land. Die Muslimbrüder und andere, radikalere Islamisten haben keine bewaffneten Milizen wie etwa die Hisbollah im Libanon, die es mit einer staatlichen Armee aufnehmen kann. Auf eine Spaltung der Armee wie in Syrien, die dort den Bürgerkrieg erst ermöglichte, weist bislang nichts hin.

Zudem zeigen die Ägypter einen hohen nationalen Zusammenhalt ohne starken Einfluss ausländischer Mächte auf bestimmte Bevölkerungsgruppen. Konfessionelle Spannungen zwischen Christen und Muslimen gibt es zwar, doch verläuft der Kernkonflikt innerhalb der Gruppe der gläubigen sunnitischen Muslime. Ein konfessioneller Konflikt, wie er etwa dem libanesischen Bürgerkrieg zugrunde lag, herrscht in Ägypten nicht. Allerdings sind die Parallelen zwischen Algerien und Ägypten erschreckend: Islamistische Parteien konnten sich Ende der 1980er Jahre eine Zeit lang legal an der Politik beteiligen. Als die Islamische Heilsfront (FIS) bei den Parlamentswahlen 1991/92 zu gewinnen drohte, erkannte die Staatsführung das Ergebnis nicht an. Die Islamisten gingen in den Untergrund und bewaffneten sich. Im folgenden neunjährigen Bürgerkrieg starben Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende. JANNIS HAGMANN