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ABSCHIED In Schleswig-Holstein ermöglichen seit drei Jahren Palliativ-Teams Schwerkranken, zu Hause zu sterben. Ehrenamtliche unterstützen dann auch Angehörige

VON ESTHER GEISSLINGER

Annemarie Sadrinnas Haut ist braun gebrannt, das weiße Haar modisch kurz. Die 73-Jährige trägt Goldschmuck und plaudert munter von ihren drei Kindern, den vier Enkeln, dem Garten. Die Tränen kommen unvermittelt – der Tod ihres Mannes liegt ein Jahr zurück, aber der Schmerz fühlt sich noch frisch an. Immerhin ist es ein Trost, dass Edgar Sadrinna zu Hause starb: Ohne Geräte, ohne die Hektik einer Intensivstation. Dafür Hand in Hand mit seiner Frau. Es war ein ruhiger Tod, für den Annemarie Sadrinna bei aller Trauer dankbar ist.

Ute Lieske heißt die Frau, die Edgar Sadrinnas Sterben begleitete. Sie dirigierte die Truppen, die rund um das Krankenbett im Wohnzimmer agierten. Lieske ist Koordinatorin des „Palliativ Care-Teams“ (pct) in Rendsburg. In Schleswig-Holstein gibt es zurzeit acht solcher Teams, die in verschiedenen Regionen unabhängig voneinander arbeiten.

Ihr Ziel ist dasselbe: Menschen, die zuhause sterben wollen, sollen das können. Die Sterbenden selbst, und nicht die Schichtpläne eines Krankenhauses, bestimmen den Rhythmus. Das klappt: So gab es den jungen Mann, der mit seiner Freundin und Baby in einer Bauwagen-Kommune lebte, als er die Krebsdiagnose erhielt. Der Todkranke verbrachte seinen letzten Sommer in dieser Gruppe, lag jeden Abend auf der Luftmatratze am Lagerfeuer und starb in seinem eigenen Wagen.

Doch es klappt nicht immer: Da gab es die Frau, die allein in einer Dachkammer wohnte, den Pflegedienst nicht hereinließ und in ihrer letzten Stunde per Kran aus dem Fenster gehoben wurde, weil die Krankentrage nicht durch das enge Treppenhaus passte. Der Rettungsdienst brach „wie ein Überfallkommando“ über die Sterbende herein, die Leute vom Palliativ-Team standen hilflos daneben – für Lieske eine schwarze Stunde ihrer Arbeit.

Zuhause sterben – in Umfragen nennt fast jeder diesen Wunsch, doch die meisten Tode ereignen sich in Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Angehörige sind überfordert vom Sterben und Hausärzte überweisen lieber ins Krankenhaus, bevor sie sich später sagen lassen müssen, sie hätten nicht alles versucht.

Die Palliativ-Teams schließen hier eine Lücke: Sie arbeiten mit Pflegediensten und Ärzten zusammen, die in Sterbebegleitung erfahren sind. Von einer „anderen Haltung“ spricht Lieske in ihrem Büro in einem Nebengebäude des Rendsburger Hospizes.

Norbert Schmelter, Geschäftsführer der „Pflege lebensnah“, die Träger des Hospizes und des örtlichen pct-Dienstes ist, ergänzt: „Der Tod ist uns von Geburt gegeben. Aber er hat seine Natürlichkeit verloren, die Verantwortung wird delegiert.“

Palliative Teams holen die Verantwortung zurück in die Familien – lassen sie aber nicht allein. Das Konzept ruht auf drei Säulen: Der Palliativ-Facharzt, der dem Hausarzt zur Seite steht, die medizinische Pflege – etwa beim Waschen – und ehrenamtliche Hilfe, die die Angehörigen unterstützt. Wichtig sei, dass rund um die Uhr jemand erreichbar ist. Bei Sadrinnas kam der Arzt sogar an seinem freien Tag ins Haus, die Krankenschwester schaute in der letzten Nacht alle zwei Stunden vorbei.

Und Marie-Luise Bruhn stand Annemarie Sadrinna während der fünfeinhalb Wochen des Sterbens ihres Mannes zur Seite. Bruhn klingelte an der Tür des roten Ziegelhauses, in dem die Sadrinnas seit 45 Jahren lebten, kurz nachdem Edgar Sadrinna sein Krankenbett im Wohnzimmer bezogen hatte. „Das hat sofort gepasst“, sagt Sadrinna. Weil Bruhn stundenweise am Pflegebett saß, konnte die Ehefrau „mal mit den Stöckern in den Wald rennen“.

Außerdem klönten die beiden Frauen über Hobbys, die Insel Föhr, die beide lieben, das Wetter, den Garten. „Es half, dass sie eine Fremde war. Vor den Kindern halte ich mich zurück“, sagt Annemarie Sadrinna.

Die Ehrenamtlichen waren die Motoren der Hospiz-Bewegung. In den späten 1980er-Jahren entstanden die ersten Hospize in Deutschland, häusliche Pflege und häusliches Sterben gewannen an Bedeutung. „Das bedurfte des Ehrenamts“, sagt Norbert Schmelter von „Pflege lebensnah“. Die körperliche und medizinische Pflege erledigen die Fachkräfte, die „zusätzliche Zeitpräsens“ liefern Freiwillige. Die „erhalten dabei sehr viel“, betont auch Lieske: Sterben unterliegt einem eigenen Zeitplan, es ändert alle Prioritäten.

Wer Sterbende begleitet, lebt intensiv. So gibt es neben der Betreuung in der direkten Sterbephase auch ehrenamtlich geleitete Gruppen für Trauernde, darunter eine Gruppe für Kinder, deren Eltern erkrankt oder verstorben sind. In der Schule oder unter Freunden sei es so gut wie unmöglich, darüber zu sprechen, weiß Schmelter.

Auch wenn die Ehrenamtlichen kein Geld erhalten, kosten solche Gruppen die Arbeitszeit von Hauptamtlichen, Raummieten und Material. Obwohl die Krankenkassen die Arbeit der Palliativ-Teams am Krankenbett bezahlen – es gibt dazu einen Vertrag zwischen örtlichen Koordinierungsteams und Kassen –, müssen die begleitenden Angebote über Spenden und andere freiwillige Mittel finanziert werden. 300.000 Euro bringe die „Pflege lebensnah“, getragen von mehreren Kirchengemeinden, im Jahr an Spenden zusammen.

Seit Oktober 2010 arbeitet das pct-Team, inzwischen ist das Verfahren bewährt und eingespielt: Das Krankenhaus, viele Ärzte und Apotheken kennen das Team und wissen, wie es arbeitet. Wenn etwa Krankenhäuser ein Team einschalten, sind viele Dinge möglich, die sonst mehr Zeit kosten: Eine Pflegestufe wird erteilt und ein kooperierendes Sanitätshaus stellt umgehend Hilfsmittel zur Verfügung.

Das klappte auch im Fall Sadrinna: Das Pflegebett mit der Spezialmatratze stand innerhalb von Stunden im Zimmer. Nur mit der Abholung dauerte es lange. Es war schwer für die Hinterbliebene, jeden Tag darauf schauen zu müssen. Sie löste das Problem pragmatisch: An einem regnerischen Tag rief sie erneut bei der Firma an und kündigte an, das Bett nun in den Vorgarten zu stellen. „Da waren sie ganz schnell da“, erinnert sie sich. Ihrem Edgar hätte das bestimmt gefallen: „Der wollte immer nur, dass es mir gut geht.“