: Zur Strafe ins Leichenschauhaus
RUSSLAND Der Schwulenaktivist Nikolai Alexejew fürchtet, Homosexualität könne wieder strafbar werden. Einen Boykott in Sotschi aber lehnt er ab
NIKOLAI ALEXEJEW
AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH
Der riesige Schaft ist schon von Weitem zu erkennen. Es ist das einzige Gebäude in dieser Umgebung mit solch stattlichen Massen. Ein Bau aus Stahl, Beton und Glas, dessen Fassade mit schlanken, vom Boden bis zum Dach reichenden verglasten Vorbauten versehen ist. In der Sonne sehen sie aus wie pralle blaue Adern. Moskaus sledstwennij komitet – die Ermittlungsbehörde – ist zu einem zentralen Ort der russischen Politik aufgestiegen, seit Wladimir Putin 2012 in den Kreml zurückkehrte
Hier wird nach Weisung von oben endgültig entschieden, wer und was geduldet werden darf. Und das ist immer weniger. Inzwischen sind aus Ermittlern Agenten einer flächendeckenden Kriminalisierung der Gesellschaft geworden. Nach der Frauenpunkband Pussy Riot und dem Oppositionellen Alexei Nawalny sind jetzt wieder die Schwulen an der Reihe.
Mitte der Woche war der Schwulenaktivist Nikolai Alexejew vorgeladen. Zunächst wurde der 35-Jährige nur als Zeuge vernommen. Die Initiatorin des Gesetzes gegen die Verbreitung „homosexueller Propaganda“, das im Juni von der Duma verabschiedet wurde, hatte den Frontmann der Moskauer Schwulenszene wegen Verleumdung und Beleidigung einer Amtsperson angezeigt. Über Twitter soll er die Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder, Jelena Misulina, verunglimpft haben. Die selbst ernannte Sittenwächterin reagierte prompt und empfahl auch gleich das Strafmaß: 360 Stunden sozial nützliche Arbeit als Leichenträger im Leichenschauhaus. Dort könne er zumindest nicht mehr für Homosexualität agitieren, so die promovierte Juristin. In dieser Auseinandersetzung gibt es keine Verhaltensregeln und Tabus mehr. Russland dreht durch. Die Obsession, mit der der Schlagabtausch geführt wird, offenbart Abgründe.
Eine ganze Gesellschaft scheint therapiebedürftig und kämpft umso mehr mit aller Kraft dagegen. Die 58-jährige Misulina wurde zur Zielscheibe des Spotts im Netz. Sie wolle Oralsex in Russland unter Strafe stellen, lautet der Generalvorwurf. Eine vertonte Romanze im russischen Stil, „Du bist ganz allein, meine Misulina“, nimmt angebliche sexuelle Abneigungen und Vorlieben der Politikerin aufs Korn. Auch dabei dominiert das Missionarische. Manche vergleichen die Dame mit dem blonden Dutt mit dem Typ Direktorin Mädcheninternat oder Lagerkommandantin.
Das Gesetz zum Verbot von „Propaganda nichttraditioneller Beziehungen“ stellt positive Äußerungen über gleichgeschlechtliche Liebe in Anwesenheit von Minderjährigen, in Medien oder dem Internet unter Strafe. Es drohen empfindliche Geldbußen bis zu 23.000 Euro für Organisationen; Privatleute kommen mit 150 Euro günstiger davon. Dafür droht das Gesetz auch Ausländern, die bei Zuwiderhandlung bis zu 15 Tage in Gewahrsam genommen und deportiert werden können.
„Ich glaube nicht, dass das Gesetz Putins persönliche Idee war“, meinte Nikolai Alexejew nach seiner zweistündigen Vernehmung. Der Kreml habe aber eine Atmosphäre geschaffen, in der sich die orthodoxe Kirche zur moralischen Richtschnur aufschwingen konnte und geltungsbedürftige Abgeordnete im Schlepptau dies in Gesetze verwandelten. „Nun spielt es den Machthabern in die Hände“, sagt Alexejew. „Sollte ich verurteilt werden, arbeite ich auch im Leichenschauhaus.“
Nikolai Alexejew zählt nicht zu den radikaleren Kräften, aber er ist hartnäckig und unbeugsam. Aufforderungen an den Westen, die Olympischen Spiele in Sotschi zu boykottieren, unterstützt er nicht. „Am Tag der Eröffnung veranstalten wir eine Gay-Parade. Damit erreichen wir mehr Aufmerksamkeit, als wenn ein Land aus Protest nicht teilnimmt.“ Grundsätzlich ist der Aktivist für Schwulenrechte jedoch pessimistischer geworden. „Noch vor einem Jahr hätte ich es für unmöglich gehalten, dass das Gesetz landesweit durchkommt.“ Er will nicht einmal mehr ausschließen, dass in der allgemeinen Hysterie auch Homosexualität wieder strafbar wird.
An dem Nachmittag seiner Zeugenvernehmung sind nur zwei Demonstranten vor der Ermittlungsbehörde erschienen. Auch die Bewegung mache mal Urlaub, meint einer von ihnen, Alexei Dawidow, auf dessen schwarzem T-Shirt „Sodomie oder Thanatos“ steht – eine Anspielung auf die klerikal-faschistische Losung „Orthodoxie oder Tod“, die radikale und nazistische Gruppen offenbar auch mit Duldung der Kirche verbreiten. Der 36-Jährige, der nach eigenem Bekunden „sehr viel durchgemacht“ hat und „keine Furcht mehr kennt“, sieht in der Hysterie die größte Gefahr. „Im Windschatten des neuen Gesetzes sind sieben Menschen ermordet worden“, sagt er, „so viel wie nie zuvor.“ Wie viele gequält und geschlagen wurden, wisse niemand.
Die Dämme brechen tatsächlich: Im Internet rufen neonazistische Gruppen, darunter „Occupy Pädophilie“ und „Occupy Gerontophilie“, dazu auf, Schwule zu verfolgen und zu drangsalieren. Pädophilie und Homosexualität werden aus Unkenntnis und Gleichgültigkeit gleichgesetzt. „Safari“ nennt die braune Szene die Übergriffe, bei denen Schwule über Internetplattformen zu Treffen gelockt und dann vor laufender Kamera misshandelt werden. Vor allem Jugendliche werden gezwungen, sich vor aller Welt zu outen und Besserung zu geloben. Die Lage für homosexuelle Teenager wird immer auswegloser. „Wir werden noch viele Selbstmorde sehen“, fürchtet Alexejew.
Die Behörden indessen unternehmen nichts. Und die Auswüchse werden nicht nur geduldet. Der russische Kinderbeauftragte, Pawel Astachow, hält die Methoden der „Occupy Pädophilie“ gar für nicht ausreichend zielgerichtet und konsequent genug: Erst übergieße man die Schwulen mit Dreck und dann lasse man sie frei, statt sie auf die Anklagebank zu setzen. Solchen Leuten sollte der Westen die Einreise verbieten, sagt Alexei Dawidow vor der Moskauer Ermittlungsbehörde.
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