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Archiv-Artikel

„Ich habe doch auch Rechte“

Die Polin Alicja Tysiąc wurde gezwungen, ein Kind zu gebären. Wie befürchtet, ist sie danach erblindet. Julia ist heute fünf, ihre Mutter verklagt den Staat

Die schwangere Frau rannte von Arzt zu Arzt. Sie musste erfahren, dass für polnische Ärzte das Wohl der Mutter zweitrangig ist

AUS WARSCHAUGABRIELE LESSER

Sie wollte nicht erblinden. Kann man das nicht verstehen? Alicja Tysiąc streicht sich langsam das braune Haar nach hinten, bindet es zu einem lockeren Pferdeschwanz. Sie wirkt müde. Ihre blauen Augen blinzeln angestrengt und winzig hinter den dicken, gewölbten Brillengläsern. „Aber ich musste die Schwangerschaft austragen“, erzählt sie. „Und das, obwohl die Ärzte vor der Gefahr gewarnt haben, dass sich durch die Geburt die Netzhaut ablösen könnte. Dabei habe ich doch auch ein Recht auf Gesundheit! Sogar nach dem polnischen Gesetz.“

Die dreifache Mutter, die seit der Geburt ihrer jüngsten Tochter schwer behindert ist, zog gegen die Ärzte vor Gericht. Erst in Polen, wo die Verfahren in erster und zweiter Instanz eingestellt wurden. Nun in Straßburg vor dem EU-Menschenrechtsgerichtshof. Der Vorwurf lautet: Polen achtet sein eigenes Recht nicht. Denn Frauen, deren Gesundheit gefährdet ist, können in dem EU-Staat einen Schwangerschaftsabbruch nicht durchsetzen, obwohl sie dieses Recht – zumindest nach dem Gesetz – haben.

Eigentlich wollte sich die 35-Jährige nach der Geburt ihres zweiten Kindes sterilisieren lassen. Das Risiko, beim nächsten Baby ihr Augenlicht zu verlieren, war groß. Doch die Ärzte sagten ihr, dass Sterilisierungen in Polen verboten sind. Pille und Spirale kamen aus gesundheitlichen Gründen nicht in Frage. Also blieb nur die Verhütung mit Präservativ. Als aber das Kondom platzte und Alicja Tysiąc schwanger wurde, wollten ihre behandelnden Augenärztinnen das notwendige Attest für die Abtreibung nicht ausstellen. „Dabei hatten sie mich immer vor einer erneuten Schwangerschaft gewarnt – das Risiko für meine Augen sei viel zu groß. Jetzt aber drückten sie mir nur voller Mitleid die Hand und schickten mich weiter. Sie hatten Angst um ihre Karriere.“

Die verzweifelte Frau rannte von Arzt zu Arzt, sie saß stundenlang in Wartezimmern und musste immer wieder erfahren, dass für die polnischen Ärzte das Wohl der Mutter zweitrangig war. Eine Erblindung sei nicht hundertprozentig vorherzusagen, meinte einer. Der nächste berief sich auf seinen katholischen Glauben. Und wieder ein anderer verwies auf die Privatpraxen, in denen der Abbruch zwar illegal und nur für viel Geld, dafür aber ohne bürokratischen Aufwand vorgenommen würde.

Schließlich fand Tysiąc doch noch Hilfe: Die Warschauer Föderation für Frauen und Familienplanung vermittelte ihr eine Internistin, die ihr das notwenige Attest für den kostenlosen Abbruch ausstellte. Doch der Gynäkologe, der den Eingriff vornehmen sollte, erklärte ihr schon auf dem Krankenhausflur, ihn interessiere ihr Attest nicht, er werde den Abbruch nicht vornehmen. Überhaupt sei die Internistin nicht kompetent – Tysiąc brauche das Attest eines Augenarztes. Ohne die Patientin zu untersuchen, stempelte er das Attest ungültig. Als Tysiąc in einen hysterischen Weinkrampf fiel, tätschelte er ihr jovial die Hand: „Meine kleine Ala. Mach dir keine Sorgen. Du kannst noch mindestens acht Kinderchen zur Welt bringen. Alle durch Kaiserschnitt.“

Verzweifelt rief sie bei den Praxen an, die ihre illegalen Dienste in Zeitungsannoncen anbieten: „Wiederherstellung der Monatsblutung“, „sämtliche Eingriffe“ oder „volle Diskretion“ lauten die Anzeigentexte. Doch wenn die Ärzte von den vorherigen Kaiserschnitten und der aktuellen Risikoschwangerschaft hörten, stieg der Preis von 1.800 Złoty (450 Euro) auf bis zu 5.000 Złoty (1.750 Euro). Unbezahlbar für die damals bereits leicht sehbehinderte Frau.

Unmittelbar nach der Geburt der heute fünfjährigen Julia platzte in Alicja Tysiącs Augapfel ein Blutgefäß. Wie von den Ärzten befürchtet, löste sich die Netzhaut. Nur mit einer Notoperation konnte die sofortige Erblindung verhindert werden. Im Krankenhaus – es war dasselbe, das der Hilfe suchenden Frau zuvor den Abbruch verweigert hatte – schrie der Augenarzt sie an: „Wer hat Ihnen erlaubt, dieses Kind auszutragen?“ Tysiąc verklagte den Gynäkologen auf Schadenersatz. Erfolglos – die Ärztekammer konnte keinen Behandlungsfehler erkennen. Auch die Warschauer Gerichte stellten das Verfahren in erster und zweiter Instanz ein.

„An Arbeit ist nicht mehr zu denken“, klagt die schlanke Frau. Früher habe sie wenigstens noch Hilfsarbeiten ausüben können – bei einem Buchbinder, einem Schneider, als Packerin. „Aber jetzt darf ich nichts mehr tragen und mich nicht anstrengen. Ich soll jetzt die Blindenschrift lernen“. Seit Julias Geburt gilt sie auch für Polens Ärzte als schwer behindert. Doch obwohl sich ihr Sehvermögen von minus 20 auf minus 26 Dioptrien verschlechtert hat, zahlt ihr weder die Krankenkasse noch ein Sozialfonds eine neue Brille. Sie selbst kann sich die teuren Spezialgläser nicht leisten. Ihre Invalidenrente von 450 Złoty (115 Euro) reicht nicht einmal, um die Miete für die Einzimmerwohnung zu bezahlen, in der die fünfköpfige Familie lebt. Seit auch noch ihr Lebenspartner seinen Job als Bauarbeiter verlor, häufen sich die Schulden. „Gott sei Dank bekommen wenigstens die Kinder in der Schule ein warmes Mittagessen.“

Die Klage der Polin vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg wird unterstützt von der Warschauer Föderation für Frauen und Familienplanung, der polnischen Helsinki-Stiftung für Menschenrechte und der internationalen Menschenrechtsorganisation Interights. Seit Jahren sorgen die Zwangsgeburten in Polen immer wieder für Negativschlagzeilen.

Ärzte verhindern pränatale Untersuchungen, wenn der begründete Verdacht auf eine Missbildung des Fötus vorliegt. Dann fordern sie immer neue Bescheinigungen, die vom Gesetz gar nicht vorgeschrieben sind, um die Zwölf-Wochen-Frist für eine Abtreibung verstreichen zu lassen. Selbst ein Staatsanwalt hat sich schon auf sein Gewissen berufen, um einer vergewaltigten Frau die Bescheinigung zu versagen, die ihr eine Abtreibung ermöglicht hätte. Anders als im Gesetz vorgesehen, benennen die gewissensgeplagten Ärzte und Staatsanwälte aber keine Kollegen, die das notwendige Attest ausstellen würden. Eine Institution, vor der Polinnen die Entscheidung eines Arztes anfechten könnten, gibt es nicht. Selbst der Rechtsweg endet für gewöhnlich im nichts. Entschädigungen für schwer missgebildete Kinder, die teure Medikamente, lebenslange Betreuung und Rehabilitation benötigen, gibt es in Polen nicht. Auch nicht für Frauen, die durch Risikoschwangerschaft oder -geburt zur Invalidin geworden sind.

„Der Fall ist der erste, aber nicht letzte von Polinnen, die in Straßburg klagen“, sagt Wanda Nowicka, die Vorsitzende der Föderation für Frauen und Familienplanung. Tatsächlich hat bereits eine zweite Polin Klage vor dem Menschenrechtsgerichtshof eingereicht.

„Schwangere werden in Polen diskriminiert“, meint auch Adam Bodnar von der Helsinki-Stiftung. „Sie werden anders behandelt als andere Patientinnen.“ Vor dem Gericht in Straßburg bezweifelten denn auch die Gutachter der polnischen Regierung den Zusammenhang zwischen Julias Geburt und der massiven Sehkraftminderung ihrer Mutter. Dies sei vielmehr der normale Verlauf der Krankheit. Innerhalb der nächsten drei Monate ist mit dem Urteil zu rechnen. Alicja Tysiąc hofft auf Gerechtigkeit – selbst wenn sie nicht mit einer Entschädigung rechnet. „Dabei würde ich gerne meine Mietschulden bezahlen und endlich eine größere Wohnung suchen.“ Braucht sie nicht eine neue Brille? „Schon“, sagt sie, „aber die Kinder gehen vor.“