: Gelebte Verfassung
VOLKSVERHETZUNG Schleswig-Holsteins Piraten protestieren gegen ein NPD-Plakat, das Sinti und Roma verunglimpft
Die Kundgebung der NPD fiel aus, die Gegendemo fand statt – Neumünster ist „bunt statt braun“, verkündeten die etwa 100 TeilnehmerInnen in der vergangenen Woche in Neumünster. Dennoch bleibt der Stadt im Zentrum von Schleswig-Holstein das Nazi-Thema erhalten. So zog bei der Kommunalwahl im Mai ein NPD-Kandidat in den Stadtrat ein, außerdem existieren Szene-Treffs wie „Club 88“ und „Titanic“.
Kein Wunder also, dass die Partei im laufenden Bundestagswahlkampf besonders ausgiebig plakatiert. Seit Sonntag hängt ein Papp-Schild weniger: Am Nachmittag stieg die Landtagsabgeordnete der Piraten, Angelika Beer, auf eine Leiter und holte, unterstützt vom Landtagskollegen Wolfgang Dudda, ein Plakat mit dem Slogan „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ von einem Laternenpfahl. Mit dem Beutestück ging es weiter zur Polizei. Der Text sei volksverhetzend, empörten sich die Abgeordneten. Betroffen ist die Volksgruppe der Sinti und Roma, die in Schleswig-Holstein explizit durch die Landesverfassung geschützt ist.
Das Plakat „suggeriert, dass für ältere Leute weniger Geld übrig ist, weil Sinti und Roma unterstützt werden“, erklärte Wolfgang Dudda. „Das ist schlicht gelogen und eine typische Taktik der NPD, Probleme unserer Gesellschaft Angehörigen von Minderheiten anzulasten.“ Die Polizei in Neumünster erfasste die Strafanzeige.
Ob juristisch das Argument durchsteht, dass die Minderheit der Sinti und Roma in Schleswig-Holstein in der Verfassung gemeinsam mit der friesischen und der dänischen Minderheit erwähnt werden, mochten weder Sven Stückelschweiger, Vorsitzender der schleswig-holsteinischen Piraten, noch Fraktionssprecher Mario Tants bewerten. Denn gemeint sind auf dem Plakat eher Sinti und Roma, die aus anderen Teilen Europas nach Deutschland einwandern.
Rassistische Hetze gegen diese Personengruppe wäre selbstverständlich strafbar, aber die schleswig-holsteinische Landesverfassung schützt sie nicht ausdrücklich: In dem Zusatz, den die Mehrheit des Landtags im August vergangenen Jahres beschlossen hat, werden nur die in Schleswig-Holstein lebenden Sinti und Roma mit deutscher Nationalität den anderen Minderheiten gleichgestellt. Das sei vor allem ein symbolischer Akt, sagt Anna Weiß, Geschäftsführerin des Landesverbandes der Sinti und Roma. Aber dass nun „Schutz und Förderung“ der Minderheit festgeschrieben sei, bedeute eine „moralische Verpflichtung“ der Mehrheitsgesellschaft.
„Genau so sehen wir das auch“, meint Piratensprecher Tants: „Der Text der Verfassung muss mit Leben gefüllt werden – und es kann nicht sein, dass Minderheiten verunglimpft werden. Dies hat in unserem Land nichts zu suchen, und an diese Regel müssen sich alle Parteien halten.“ Angelika Beer, die auch dem Gremium für die Rechte der Sinti und Roma in Schleswig-Holstein angehört, will die Debatte in den Landtag tragen: Sie wünscht sich für die morgige Sitzung des Parlaments eine Stellungnahme der Abgeordneten.
Die juristische Bewertung des Falls liegt nun bei der Staatsanwaltschaft in Kiel. Dort sind die Anzeige und der Bericht der Polizei Neumünster noch nicht angekommen, daher wollte der Sprecher der Staatsanwaltschaft noch keine Bewertung abgeben.
Auch noch nicht erfolgt ist die Retourkutsche der NPD: eine Anzeige wegen Sachbeschädigung gegen Angelika Beer. „Damit rechne ich“, sagt die Abgeordnete. Ansonsten wird die Partei politisch weiterarbeiten und abwarten. „Wir können natürlich nicht dazu aufrufen, Plakate abzureißen“, sagt Stückelschweiger. ESTHER GEISSLINGER