: Wild-Ost in Brandenburg
PROVINZPOSSE Ein Spekulant konnte durch das Versagen der Behörden billig eine öffentliche Anwohnerstraße samt Kanalisation und Beleuchtung ersteigern – und muss nun enteignet und teuer dafür entschädigt werden
VON THOMAS WÜPPER
In jedem Dorf ein brütendes Storchenpaar, das haben nur wenige deutsche Gemeinden zu bieten. Stolz wirbt das Amt Beetzsee im brandenburgischen Havelland für diese Sehenswürdigkeit. Bekannt wurde die Region allerdings nicht wegen ihrer Störche, sondern durch die skandalöse Zwangsversteigerung einer öffentlichen Straße im Ortsteil Briest der Stadt Havelsee. Bundesweit lästerten Medien über „Deutschlands dümmste Gemeinde“.
Seit vier Jahren beschäftigt der Fall nicht nur die 3.500 Einwohner der Kommune im Landkreis Potsdam-Mittelmark, sondern auch zahlreiche Behörden und sogar eine „Enteignungskommission“. Denn der Spekulant, der die fast ein Kilometer lange Straße erworben hat, muss nun wohl teuer entschädigt werden. Dabei kann er auf eine Vervielfachung seines Einsatzes hoffen, womöglich sogar auf Kosten der Steuerzahler. Schon jetzt steht fest: Mit dem Fall Briest macht Brandenburg seinem Ruf als Land der Pleiten und Pannen ein weiteres Mal alle Ehre.
Günter Noack kann das Versagen des zuständigen Amts Beetzsee, das nicht nur bei Anwohnern der Straße helles Entsetzen auslöste, bis heute kaum fassen. „Man hat sich damals wirklich dämlich angestellt“, sagt der erfahrene Bürgermeister von Havelsee, der schon zu DDR-Zeiten die Kommune lenkte. Wer mit ihm redet, merkt schnell: Es herrscht noch immer dicke Luft vor Ort. Für den 56-Jährigen steht fest: „Diesen Schaden wird keinesfalls unsere Stadt zahlen, sondern das Amt oder dessen Versicherung übernehmen müssen.“
Die Ursache der Querelen liegt in den 90er Jahren. Wie auch andernorts beim Aufbau Ost setzte in Briest ein Bauträger einen Wohnpark auf die grüne Wiese, kassierte die Kaufpreise für Häuser und Wohnungen und ging danach pleite. Ein Erschließungsvertrag sah zwar Bau und Übergabe der neuen Anliegerstraße „Am Mühlenberg“ an die Kommune vor. Der Konkursverwalter bot der Stadt nach der Pleite sogar noch mehrfach die öffentliche Zufahrt aus der Insolvenzmasse an, und zwar so gut wie geschenkt für nur einen Euro. Doch die Stadt wartete trotzdem die Zwangsversteigerung ab, angeblich um einige 100 Euro Kosten für den Notar zu sparen.
Am 14. August 2009 saßen dann zwei Mitarbeiterinnen des Amts Beetzsee im Amtsgericht Potsdam. Ihr Auftrag: Kauf der Straße für einen Euro. So niedrig wurde die Zufahrt im Gutachten zur Versteigerung bewertet, so lautete auch das Mindestgebot. Denn der Unterhalt von Straßen ist teuer, niemand übernimmt so eine Last freiwillig. Was niemand erwartete: Es gab trotzdem einen weiteren Bieter. Der Libanese Wassim Saab, ein bereits seit Langem in Berlin lebender Pensionär, schnappte der Kommune für gerade mal 1.000 Euro die Straße samt Kanalisation und Straßenbeleuchtung vor der Nase weg.
Nur Zufall und ein Spontankauf, wie Saab danach den Medien erzählte? Oder vielleicht doch eher ein abgekartetes Spiel kundiger Hintermänner mit einem Strohmann, wie Kritiker vermuten? Seine wichtigste Botschaft platzierte der Libanese jedenfalls schnell und geschickt in der Öffentlichkeit. Das Land solle ihn enteignen und für die rund 5.000 Quadratmeter Straße entschädigen, teilte er offenherzig mit, der Antrag sei bereits eingereicht.
Saab bot der Stadt die Zufahrt zu den rund 60 Häusern am Mühlenberg auch zum Kauf an. Er wolle keinen Ärger mit den Anliegern, aber gleichwohl mit der Straße Geld verdienen. Seine Forderung an die Stadt: fast 400.000 Euro. Also fast das 400-Fache dessen, was er selbst bezahlt hatte. Die Kommune lehnte dankend ab und bot 1.300 Euro an.
Saab ist inzwischen nicht mehr zu erreichen. Sein Berliner Anwalt Olaf Wolffgang, ein Spezialist für Familienrecht, ist dafür umso gesprächiger und kennt die Verhältnisse vor Ort bestens. Der Jurist hat im Wohnpark Mühlenberg selbst eine Immobilie erworben und nach eigener Aussage auch den Versteigerungstermin der Straße gekannt. Für Wolffgang bestehen wenig Zweifel, dass das laufende Enteignungsverfahren am Ende eine mindestens sechsstellige Entschädigung für seinen Mandanten bringt. Mit einem Betrag zwischen 100.000 und 250.000 Euro sei auf Basis der anzusetzenden Baukosten für die Straße zu rechnen.
So weit, so verrückt. Erst wird eine öffentliche Straße an einen Spekulanten versteigert, danach muss sie wieder enteignet und der Käufer entschädigt werden. Die meisten Beteiligten in Brandenburg würden daher am liebsten gar nicht über die peinliche Sache reden. Es gehe „eindeutig um eine Angelegenheit der kommunalen Selbstverwaltung“, schiebt man im Haus des Innenministers und künftigen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD) den Schwarzen Peter weiter – und zwar an die Stadt und den Landkreis Potsdam-Mittelmark, der die Kommunalaufsicht habe. Das Verkehrs- und Infrastrukturministerium vor Ort fühlt sich auf Anfrage gleich gar nicht zuständig.
Immerhin wird von der Landesregierung nach mehrfacher Nachfrage und einigen Wochen Wartezeit wenigstens bestätigt, dass inzwischen ein Enteignungsverfahren nach Paragraf 13 des Straßengesetzes von Brandenburg läuft. Der Ausgang sei offen. Das Innenministerium hat dazu als zuständige „Enteignungsbehörde“ nun eine „Enteignungskommission“ gebildet, die beim Landkreis ein Gutachten bestellt hat. Geklärt werden soll die Frage, was eine öffentliche Straße eigentlich wert ist. Daran könnte sich die Höhe der Entschädigung an Saab orientieren. Ein Termin vor Ort fand inzwischen statt.
Dort ist die Stimmung frostig. Die Stadt Havelsee habe bereits angezeigt, dass man Schadenersatzforderungen gegen das Amt Beetzsee geltend machen werde, wenn man an Saab zahlen müsse. Das räumt die verantwortliche Amtsdirektorin Simone Hein auf Anfrage ein. Bisher sei aber noch kein Schaden entstanden. Deshalb sei auch noch offen, ob die Haftpflichtversicherung des Amts die Kosten letztlich übernehme. In diesem Fall bliebe zumindest der Steuerzahler von den Folgen des Behördenversagens in Brandenburg verschont.
Wer sich letztlich wegen des Straßenskandals verantworten muss, ist bisher offen. Womöglich niemand, obwohl offenkundig auch die Aufsichtsbehörden versagt haben. Amtsdirektorin Hein, deren Amt den rechtzeitigen Kauf der Straße versäumt hat, betont, es seien keine dienstaufsichtsrechtlichen Maßnahmen gegen sie eingeleitet worden. Anwalt Wolffgang wirft der Behörde „völlige Ignoranz“ vor. Auch Bürgermeister Noack sieht einen „klaren Fall von Amtshaftung“.
Allerdings will der Stadtobere die Schuld nicht allein bei der Behörde abladen. Noack kritisiert riskante Rechtslücken bei Bauträgerprojekten, bei denen private Immobilienunternehmen häufig auch den Bau der öffentlichen Infrastruktur übernehmen. „Eigentlich sollten immer erst Straßen, Wasser- und Abwasseranlagen fertig, mängelfrei abgenommen, freigegeben und an die öffentliche Hand übergeben worden sein, bevor Häuser und Wohnungen bezogen werden“, sagt der Kommunalpolitiker. Dadurch könnten Fehlentwicklungen wie in Brieske bei einer Pleite des Bauträgers verhindert werden.
Auch beim Städte- und Gemeindebund in Potsdam hat man aus dem Straßenskandal in Havelsee gelernt und sieht die Sache ähnlich. „Eine rechtzeitige Widmung und Übertragung der Straße hätte die Misere verhindert“, sagt Geschäftsführer Karl-Ludwig Böttcher. Mit der Widmung, in der Regel einem förmlichen Rechtsakt, geht laut Gesetz die Baulast auf die öffentliche Hand über, die damit die Kosten des Unterhalts wie Reparaturen, Reinigung, Winterdienst, Beleuchtung oder Verkehrssicherung zu tragen hat.
In Havelsee wurde die Straße aber erst kurz nach der Versteigerung an Saab durch Verfügung des Amts gewidmet. „Mit Widmung wäre eine Versteigerung gar nicht möglich gewesen, und wir hätten ein paar Sorgen weniger“, sagt Böttcher. Doch im Fall Briest kommt diese Erkenntnis zu spät. Ähnliche Skandale jedoch sollen künftig verhindert werden. „Wir haben unseren Städten und Kommunen den Fall Havelsee sehr intensiv zur Kenntnis gegeben“, betont der Experte. „Und jetzt hoffen wir auf den Aha-Effekt.“