: Schülerhirne, denkt divergent!
Teenies aus Potsdam, St. Petersburg und Chengdu zeigen bei der Odyssee im Kopf, wie kreativ Lernen sein kann – ohne Lehrer, Lehrplan und Schulbuch
VON JENNI ZYLKA
Auf der Bühne geben kleine Kinder ein dadaistisch-futuristisches Theaterstück. Oder vielleicht interpretieren sie George Méliès' extremes Frühwerk „Die Reise zum Mond“ von 1902 neu? Mädchen und Teddy liegen im Bett, als ihnen ein Deko-Strohstern (samt Stecker und Kabel) erscheint, der sie mit auf eine Reise ins Weltall nimmt. Das Weltall ist ein mit verknickten Alufolieplaneten behängter Tisch, dahinter hopst ein Marsmensch hervor, zu erkennen an der grünen, mit roten Punkten und dicken Antennen ausgestatteten Pappmachémaske.
Ein anderes Wesen scheint das Alter Ego des Teddys zu sein, eine Schachtel Kekse wechselt den Besitzer, ein Kind nuschelt: „Thank you, you saved our planet“, und am Ende liegen Teddy und Mädchen wieder im Bett. Das elternstarke Publikum rast, und auch die Jury ist zufrieden. „Die Weltraumreise“, ausgedacht, ausgestattet und aufgeführt von der Vorschulklasse der „Quentin-Blake-Europa-Schule“ aus Berlin, lief außer Konkurrenz.
Wir sind bei der „Odyssey of the mind“, von deutschen Mitkreativen gerne „Olympiade des Geistes“ genannt. Das Deutschlandfinale fand vergangenes Wochenende in der Berlin-Zehlendorfer John-F.-Kennedy-Schule statt. Das Wichtigste hier ist das Mitmachen, obwohl der Kreativitätswettkampf seine ernsten Seiten hat – Kreativität ist schließlich eine ernst zu nehmende Ressource, die zu fördern sich die Veranstalter von Germany International (GI) in diesem Jahr zum 15. Mal auf die T-Shirts und tief in die Hirnhautrinde geschrieben haben. Parolen wie „1:0 für Kreativität!“ oder der „Odyssey of the mind“-Eid, der mit „My team and I will reach together / to find solutions now and forever“ Teamgeist und Zusammengehörigkeit beschwört, sind allgegenwärtig.
Die Wettkampfidee für heiße Kinderköpfe kommt ursprünglich aus den USA, 1978 gründete ein Uniprofessor aus New Jersey das „einzige nichtstaatlich internationale Bildungsprogramm“, seit 1991 konkurrieren auch deutsche Schulen um die Ehrensiege. Mit extrem wenigen Sponsorengeldern und extrem viel ehrenamtlichem Elan gestemmt, soll der Schülerwettbewerb laut Eigenaussage Kreativität, divergentes Denken, Teamgeist, Selbstachtung und internationale Verständigung fördern.
Die Aufgaben, die die nach Altersstufen geordneten Teams der mitspielenden Schulen zu bewältigen haben, heißen „Probleme“, werden jährlich neu von einer der ursprünglichen Gründergesellschaft angeschlossenen Firma ausgeknobelt und im Oktober des Vorjahres öffentlich gestellt. Sie lassen manchen nur bedingt Kreativen schon beim Durchlesen verwirrt zurück. „Problem 1: Die große Parade. Die Mannschaften werden ein Fahrzeug entwerfen, bauen und führen. Es wird für drei verschiedene Festwagen in einer Parade verwendet werden. Das Fahrzeug wird – gestaltet als der erste Festwagen – einen Parkplatz verlassen, eine Rundfahrt auf einer Paradestrecke absolvieren und zum Parkplatz zurückkehren. […] Einer der Festwagen wird ein technisches Merkmal besitzen. Die Parade wird mit einer spektakulären Feier abschließen. […]“
Die Altersgruppe der 9- bis 12-Jährigen der Munich International School hat die Anforderung auf ihre Art interpretiert: Die Mannschaft mit den extra gedruckten, hellblauen Shirts hat einen „Brain Train“ gebaut, die Mitglieder tragen angemalte Pappteller als Kopfschmuck – die Kostenbegrenzung der benutzen Materialien ist 145 US-Dollar – und laufen hinter der wackligen Seifenkiste her. Beim ersten Rundgang skandieren sie „Ima-gine things you can-not see“, beim zweiten „Under-standing you and me“, zwischendurch spielt ein Junge schöne kleine Kadenzen auf einem Saxophon, und die reichlich absurde, aber souveräne Performance hat etwas von einem modernen Theaterstück. Der Jury, etwas erwachsenere Menschen mit gelben „Judge“-T-Shirts, hat es für den zweiten Platz gereicht – bei vier Gruppen in jener Altersstufe ein respektables Ergebnis.
Man wird später noch Teenies aus Potsdam, St. Petersburg, der Ukraine und Berlin bei der Aufführung ihrer Version von „Problem 5: Der Dschungel Bursche“ sehen, bei der eine Art junger Dr. Doolittle den Tieren eines Dschungels helfen muss. Er muss eine andere Person davon überzeugen, dass er mit Tieren sprechen kann, die Aufführung soll „ein originelles Lied und einen Tanz“ beinhalten. Die SchülerInnen der russischen School No 192 singen im Refrain ihres „originellen“ Liedes etwas, was wie „Understanding Cooperation is our force“ klingt, dazu springen 15-Jährige in Schlangen- und Indianerkostümen herum, und wem das immer noch zu unoriginell ist, der kann sich vom „Technologietransfer-Problem“, dem „Geometriestrukturproblem“ oder von „Altes Ägypten“ inspirieren lassen.
Dana und Nick sind 12 und 13, sie gehen zur JFK-Schule und sind – wie die meisten – native English speakers. Sie wollten mit einem selbst gebauten Apparat Staat machen, der aussieht wie eine „Kiste mit Armen dran“ und der selbstständig Dinge hochheben sollte, nur leider bei ihrer Performance völlig versagt. Dana, mit Brille und Lolli der Prototyp eines selbstbewussten Brainy-Girls, macht das aber gar nichts: „Da waren nur zwei Gruppen in unserer Altersstufe“, also gibt's auf jeden Fall eine Medaille. Und beim Spontanwettbewerb, einer geheimnisvollen, für Zuschauer nicht zugänglichen Prüfung, bei der die Kinder und Jugendlichen unvorbereitet sprachliche Aufgaben zu bewältigen haben oder etwas bauen sollen, waren sie sogar ganz gut. Das denken beide.
Dass so viele zweisprachige „Elite“-Schulen aus deutschen Edelstadtbezirken beim Wettbewerb mitmachen, liegt an seiner Historie: Die deutschen Veranstalter von Germany International entstammen der binationalen Gesellschaft deutscher und US-amerikanischer Schulen in Deutschland (DoDDS). Auf diese Schulen kann nicht jedes Kind gehen, sie waren meist für die Söhne und Töchter der „Internationals“ vorgesehen.
Natürlich können sich aber alle Schulen am Wettbewerb beteiligen. Das erklärt „Head Judge“ Alexandra Koch, eine ehemalige Teilnehmerin vom Kleinmachnower Weinberg-Gymnasium, das traditionell gut bei den Wettkämpfen abschließt. Der Mitgliedsbeitrag ist gering, die Kosten, die durch die Reisen zu den Wettkämpfen entstehen – die Endausscheidung findet im Mai in Iowa, USA statt, Anfang letzten Monats gab es einen Wettkampf in Schanghai –, versucht man mit Sponsorengeldern mitzutragen. Vielleicht liegt es am mangelnden Bekanntheitsgrad in der Weltöffentlichkeit, dass bis jetzt trotzdem fast nur Schulen aus dem imaginären „Odyssey of the mind“-Dreieck China–Russland–Berlin teilnahmen – einer Schule aus einem deutschen Problembezirk würde das Networking mit Kreativen aus der ganzen Welt auch gut anstehen. Englisch als Umgangssprache ist zwar erwünscht, aber nicht Pflicht.
Vielleicht ist aber auch das Prinzip, schulfachübergreifend und altersunabhängig zu arbeiten, zu innovativ und zu frei für die festgefahrenen Lernstrukturen vieler deutscher Institutionen: „Wenn wir erklären, was wir machen, haben die Schulleiter manchmal Probleme, es in ihre Systeme einzuordnen“, erzählt Alexandra Koch. Denn das erklärte Ziel der Problemstellung ist ja eben, nicht nur ein Fach und eine Begabung, sondern möglichst alle Talente zu wecken: Jedes Problem kann nur durch komplett eigene Ideen, Organisation, Teamwork und den Willen zur unterhaltsamen Laienspielpräsentation gelöst werden.
Die Kriterien, nach denen beurteilt wird, wirken diffizil und kompliziert. Auf dem so genannten scoresheet, das die Jury nach der Bewältigung jeder Aufgabe ausfüllt, gibt es Punkte für künstlerische Qualität, die Originalität der Aufführung und spezifische Problembewältigungen, etwa dafür, wie gut die altägyptische Szene „ein Gefühl für Raum und Zeit des alten Ägypten“ vermittelt. Aber wegen der vielen Altersstufen und der sprachlich und kulturell komplett unterschiedlichen Darstellung kann die Jury eigentlich nicht wirklich mäkeln. Auch wenn die Schüler der No 7 Middle School aus Chengdu, China einen wichtigen Teil ihrer Aufgabe vermasselt hat – sie hätten eine „ägyptische architektonische Struktur“ erklären müssen, verbrachten ihre 10 Minuten aber lieber mit pittoresken, chinesisch-südamerikanischen Tanzversuchen –, ihre Kulissen waren spektakulär: eine große, glitzernde Sphinx, ein fahrbarer, perfekt beklebter Wagen, ein stabiler Obelisk. Wenn diese SchülerInnen auch nur dritte (von drei) SiegerInnen in ihrer Altersstufe wurden, einen Job als KulissenbauerIn schaffen sie vermutlich mit links.
Bei der Abschlussveranstaltung am Samstagnachmittag kam und lobte auch der Schirmherr der Veranstaltung, Brandenburgs Bildungsminister Holger Rupprecht (SPD). Die chinesischen Mannschaften durften am nächsten Tag sogar noch das VW-Werk in Wolfsburg besichtigen. Nicht weil es etwa das Symbol für Kreativität schlechthin ist, wie der junge GI-Direktor Stefan Hübner versichert, sondern weil es einfach möglich war, dort günstig eine Führung zu bekommen. In anderen Jahren waren die Gäste auch schon mal im Harz, gute Luft inhalieren, und außerdem ist Kreativität ja ohnehin ortsunabhängig.