: Paul Noltes Erweckungsideologie
betr.: „Klötzchen aus dem Schreibbaukasten“, taz vom 16. 3. 06
Als 63er muss man sich darüber freuen, dass man nicht länger in „Generationshaftung“ für Paul Noltes Projekt einer neobürgerlichen Wende genommen wird, die in vielem an den sozialreformerischen Diskurs im deutschen Vormärz erinnert – eine Epoche, in der der Wehler-Schüler sich nachweislich bestens auskennt. „Alter Wein in neuen Schläuchen“ oder wie es ein unerschrockener Kolloquiumsteilnehmer bei Vorstellung von Noltes Habilitationsprojekt formulierte: „Paul, deinen Ansatz finde ich ausgesprochen konservativ!“
Immerhin: Den scharfen analytischen Blick verdankt er seinen großen Lehrern in Bielefeld, und dafür lässt sich dem „linken Konservativen“, als der er sich jetzt vollmundig präsentiert, auch seitens eines desillusionierten Linken applaudieren. Vor den „Risiken und Nebenwirkungen“ der paternalistischen Attitüde, die er den neu formierten Eliten zur Genesung der deutschen Gesellschaft verschreibt, sollte hingegen auf einem Beipackzettel für sein erweckungsideologisches Programm gewarnt werden. Wäre eigentlich eine gute Zeit, um eine Studie mit dem Titel „Zur politischen Urteilskraft von Historikern. Von Treitschke bis Nolte“ zu veröffentlichen.
Was Paul Nolte betrifft, so bin ich zwiegespalten in meiner Beurteilung. Einerseits finde ich es erfrischend, dass hier einer die lethargische Politikferne der deutschen Historikerzunft hinter sich lässt und sich in aktuellen Debatten positioniert. Andererseits bin ich nicht wenig erstaunt über die intellektuelle Blüte, die die alte „Bielefelder Schule“ da hervorgebracht hat, und geradezu verblüfft darüber, dass man sich, im Professorenstande angekommen, als „Think-Tank“ für Merkel, Rüttgers & Co. prostituiert. Lassen sich Wehlers Eskapaden der jüngsten Vergangenheit vielleicht noch als späte Atavismen einer HJ-Sozialisation entschuldigen, so erscheint die „Nolte-Volte“ nur noch rätselhaft (und soll es vermutlich auch bleiben). Treffsicher spießt Ulrike Herrmann die Schwachpunkte seiner Argumentation auf und stellt die plötzlich konstatierte intellektuelle Langeweile in den richtigen Begründungszusammenhang.
Man darf gespannt sein, welche dramaturgischen Höhepunkte die nächste Folge der Serie „Die Medien und der Meisterdenker“ zu bieten hat. Einstweilen lege ich mal wieder die alten Fehlfarben auf: „Paul ist tot, kein Freispiel drin!“ SVEN EISENBERGER, Bielefeld