: Der grüne Zuschauer
RETROSPEKTIVE Zu ihrem 100. Geburtstag wird Meret Oppenheim in ihrer Geburtsstadt im Martin-Gropius-Bau groß gefeiert
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Irgendwann im Leben ist es so weit. Da wird man die Empfindung nicht mehr los, dass gerade irgendwo immer jemand von denen, die man nicht missen möchte, mit dem Sterben beschäftigt ist. Irgendwann lernt man zwar, das auch wieder zu vergessen. Und dann liest man womöglich in einem Museum einen Bildtitel, der die ganze Erfahrung mit dem Leben und Sterben in einer lapidaren Zeile komprimiert: „Einer, der zusieht, wie ein anderer stirbt.“
Meret Oppenheim war gerade mal zwanzig Jahre alt, als sie 1933 mit diesem Satz eine Zeichnung betitelte. Erst im Jahr zuvor war sie von Berlin nach Paris gezogen, fest entschlossen, Malerin zu werden. Die Zeichnung, die jetzt Teil einer Meret-Oppenheim-Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau ist, zeigt eine kleine Figur, nicht sonderlich expressiv und skizzenhaft gestrichelt, die zum rechten Bildrand schaut, an dem eine zweite, größere und angeschnittene Figur lehnt, von der man nur die Beine und den Brustkorb sieht. Eine sehr merkwürdige Komposition, die weniger ein Mitleiden als das Befremdende des Zuschauens ausstellt. Und eine gewisse sachliche Neugierde am Prozess des Vergehens.
Der Bildtitel taucht bis Ende der fünfziger Jahre noch öfter in Oppenheims Werk auf, er wandert, ergänzt um „Der grüne Zuschauer“ über Skizzen von Stelen, die schließlich in einer Skulptur aus Stein und Holz münden, aufrecht stehend und symmetrisch, abstrakt und doch dem Körper verwandt. Ihre Symbolik wirkt archaisch, ein wenig sakral, und wieder verblüfft die Lakonie des Titels – „Der grüne Zuschauer oder Einer, der zusieht, wie ein anderer stirbt“. Tatsächlich kann man in einem der Wandtexte der Ausstellung ein Zitat der Künstlerin finden und erkennen, dass mit dem grünen Zuschauer „die Natur gemeint ist, die eben gleichgültig ist, wenn Leben stirbt“.
Meret Oppenheim, geboren in Berlin-Charlottenburg als Tochter eines Arztes am 6. Oktober 1913, starb 1985 in der Schweiz, dem Land ihrer Mutter und Großmutter. Ihren 100. Geburtstag nahmen das Bank Austria Kunstforum in Wien und der Martin-Gropius-Bau in Berlin zum Anlass einer großen Retrospektive, für die viele Leihgaben aus Privatbesitz kommen. David Bowie stellte etwa das große Bild „La condition humaine (Da stehen wir)“ von 1973 zur Verfügung, dessen blaugrauer Farbauftrag nicht zuletzt wegen der marmorierten Ränder fast wie kalter Stein anmutet. Eine winzige schwarze Silhouette, nicht mehr als ein Komma zwischen zwei Gedankenstrichen, steht zwischen zwei großen Aussparungen im glatten Farbauftrag. Die wirken wie Augen, mit denen das Bild den Betrachter anschaut. Unheimlich ist die Leere dieser Höhlen.
Die Arbeit mit der Leere, der Markierung von Abwesenheit, aber auch die Unterbrechung des Erzählflusses oder ein Wechsel in den Codes der bedeutunggebenden Bildelemente sind Merkmale, die Oppenheims Werk gerade auch für die Gegenwart spannend machen. Sie war eben, das zeigt die Retrospektive, viel mehr als eine frühe Meisterin des Surrealismus und eine Muse der Surrealisten. Weil aber ihre berühmte Pelztasse, von André Breton als „Frühstück im Pelz“ betitelt, schon 1936 im Museum of Modern Art in New York zu einer Inkunabel des Surrealismus wurde und Man Ray die knabenhafte Schönheit der frisch in Paris und im Kreis der Künstler eingetroffenen jungen Frau für eine Serie inszenierter Fotos nutzte, wurde Meret Oppenheim früh bekannt. Und auch gleich eingeordnet.
Dass Man Rays Serie „Érotique voilée“ selbst etwas von der Ambivalenz des Prozesses, in ein Bild gefügt und vereinnahmt zu werden, erzählt, macht die Stärke dieser Fotografien aus. Unbekleidet sieht man Meret Oppenheim hinter dem Schwungrad einer Druckerpresse, den Arm voller schwarzer Farbe. Ihr Körper ist so hell wie das zu bedruckende Papier, die Schatten der Maschine zeichnen sie wie Buchstaben.
1937 müssen ihre Eltern, weil sie jüdischer Herkunft sind, vor dem nationalsozialistischen Terror fliehen und Berlin verlassen; Meret Oppenheim kommt zu ihnen in die Schweiz. In dieser Zeit beginnt ihre Distanzierung vom Surrealismus, auch wegen der männerbündischen Rituale und Vereinnahmungen, und ihre Beschäftigung mit der Besetzung des Frauenbildes beginnt.
Durch ihre kluge Anordnung der Ausstellung hat die Kuratorin Heike Eipeldauer dafür gesorgt, dass man im Spiel mit der Maske, in Metamorphosen und in verschlüsselten Selbstporträts den Umgang mit Zuschreibungen und das Erkunden noch nicht besetzter Räume für den Ausdruck des Eigenen gut verfolgen kann. Meret Oppenheim inszeniert das nicht mit Pathos, nicht als Drama oder Schmerz, sondern mit einer Vielfalt von Formen, zeichnerisch, dinghaft, malerisch. Sie findet dabei immer neue Wege durch die verschachtelte Architektur von Bewusstem und Unbewusstem, von Projektion und Selbstbild.
Und wie eine kleine Zuschauerfigur für die Gleichgültigkeit der Natur stehen kann, können umgekehrt Landschaften, Vegetationen, Architekturen und andere artifizielle Gebilde verschmelzen und den Schauplatz bilden, an dem ein Ich auftreten oder sich verstecken kann. Wie in der unglaublichen Zeichnung „Selbstporträt seit 50.000 v. Chr. bis X“ von 1966 – unglaublich deshalb, weil Meret Oppenheim eine eigentlich nicht vereinbare Vielfalt von Räumen auf kleinstem Raum komprimiert. Eine ganze Welt, die an die Stelle des Subjekts tritt.
■ Bis 1. Dezember, Martin-Gropius-Bau, Berlin, Katalog (Hatje Cantz) 39,80 Euro