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Archiv-Artikel

Zeitgeistforschung

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Schließlich zeichnet den gegenwärtigen Zeitgeist tiefe Bildungs-frömmigkeit aus

Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihr gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit … G.W.F. Hegel, „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1820)

Lange nichts mehr von Zeitgeist gehört, gell? In den Achtzigern bildete das doch einen ganzen Sonderforschungsbereich mit eigenen Publikationen, wo anhand von Musik und Mode und Handel, Wandel, Kunst und Wissenschaft enträtselt wurde, was warum angesagt sei, mit einer Leidenschaft, in der man, einiges Wohlwollen vorausgesetzt, einen philosophischen Impuls erkennen konnte. Den Zeitgeist zu entziffern, das verhilft zur Zeitgenossenschaft im emphatischen Sinn, und die war selber das Angesagteste.

In den Neunzigern finden sich noch Spuren dieser Anstrengung, aber seit 2000 ist es damit ganz vorbei – ich hege den Verdacht, zum normalen Ableben dieser Mode habe extra beigetragen, das sich die Reihe der Siebziger, Achtziger, Neunziger so schlecht fortsetzen lässt. Die Nuller? Das wäre schon in sich voller Verachtung. Wahrscheinlich geht es erst nach 2010 mit den Zehnern weiter. Dass sich gegenwärtig niemand so richtig für den Zeitgeist interessiert, alle stattdessen für harte Fakten wie die Vogelgrippe oder das Schrumpfen des deutschen Volkskörpers, das heißt natürlich nicht, es gebe keinen, die Gegenwart komme ganz ohne denselben aus. Sehen wir zu, welche Elemente sich versammeln lassen.

Erstens scheint mir der Zeitgeist der Gegenwart entschieden antikapitalistisch zu sein. Die unverkennbar satanische Strahlung, die seit Marx das „Kapital“ abgibt, hat seit dem Untergang des Sowjetsozialismus noch zugenommen. Die Globalisierung, der Freihandel, der Hunger und das politische Elend der Dritten Welt, der Rückbau des Sozialstaats in der unsrigen, die Schere zwischen Arm und Reich, die angeblich immer weiter aufklafft – man könnte eine Gesellschaftsspiel daraus machen, wer in wie kurzer Zeit mehr von diesen Teufeleien zusammenbringt.

Zweitens ist der gegenwärtige Zeitgeist entschlossen antiamerikanisch, notwendigerweise, denn in den Vereinigten Staaten herrscht der große Satan des Kapitals ja ohne die wohltätigen Hemmungen, die ihm die weise BRD auferlegte – weil, so will es die Mythologie, der Sozialismus der DDR nebenan mit einer Alternative lockte (eine Idee, die keinem genaueren Nachdenken standhält: in welche Richtung verliefen denn die Flüchtlingsströme?). Auch dies ließe sich zu einem Gesellschaftsspiel ausgestalten: Wer in wie kurzer Zeit die meisten Verbrechen zusammenkriegt, die von den USA begangen wurden – angefangen mit der Kolonisierung der Neuen Welt. Dass die Spanier die ersten waren und wie Südamerika darunter bis heute leidet, muss das Gesellschaftsspiel auslassen.

Der Antiamerikanismus des gegenwärtigen Zeitgeists richtet sich gegen die USA in ihrer Totalität. Es geht nicht bloß gegen George W. Bush und seine Politik (sofern es die überhaupt gibt), nein, dieser Präsident verkörpert die USA im Ganzen, in ihrer ganzen Verwerflichkeit. Lüstern schwelgen unsere Kreise in Fantasien, wie Bush den Iran bombardieren lässt und „die ganze Region destabilisiert“ – während die Reden des Präsidenten Ahmedinedschad und die Idee einer iranischen Atomwaffe niemanden aufregen. George W. Bush erschien ja auch stets weit schurkischer als Saddam Hussein.

Viertens ist der gegenwärtige Zeitgeist vage religiös gestimmt. Am deutlichsten machen das Spitzenkräfte des Frömmel-Feuilletons wie Stephan Speicher (Berliner Zeitung) oder Alexander Kissler (SZ); an Weihnachten verkündete Ulrich Greiner auf der Titelseite der Zeit, Gott sei nicht tot (was, wie mein alter Freund Theckel behauptete, Gott sicher gern gehört hat).

Dabei bleibt die religiöse Gestimmtheit, wie gesagt, stets vage; kein Promi will demonstrativ konvertieren oder ins Kloster eintreten, um der satanischen, amerikanisch-kapitalistischen Welt zu entkommen. Die Krankheit und der Tod des Wojtyła-Papstes, die Wahl Ratzingers erregten eine Aufmerksamkeit, als ginge es um welthistorische Ereignisse von weitreichender Wirkung. Dabei kamen die „paläokonservativen“ (David Brooks) Botschaften der Päpste beim Zeitgeist nirgends an; es war die Sehnsucht nach Autorität und Unterwerfung, keineswegs die Unterwerfung selber. Die theologischen Botschaften waren auch viel zu kompliziert, als dass man ihnen hätte folgen können; sie setzen Spezialkenntnisse voraus. Und was die Sexualmoral angeht, so treffen hier die entsprechenden Instruktionen seit langem auf Desinteresse und Indifferenz.

Dieselbe Talkshow, die in George W. Bushs religiösen Orientierungen, überhaupt der stärkeren und breiteren Religiosität der Vereinigten Staaten sogleich wieder das Satanische und die Gefahr für den Weltfrieden erkennt, dieselbe Talkshow kann ahndungsvoll den Gedanken umkreisen, dass der Westen dem islamistischen Terror besser begegnen könnte, wenn er einem eigenen starken Glauben anhinge.

Lüstern schwelgen unsere Kreise in Fantasien, wie Bush den Iran bombardieren lässt

Auch diese Idee hält dem Nachdenken keinen Augenblick stand; er wirkt nur ad hoc. Worin sollte denn die Stärkung unserer Widerstandskraft bestehen? Dass islamistisch überzeugte Ingenieur-Studenten sich einfach nicht mehr an deutsche Hochschulen trauen, weil zu Beginn jeder Vorlesung das Vaterunser gebetet wird? Dass Muslime uns nicht mehr als Ungläubige verachten könnten, weil wir’s ja nachweislich nicht sind? Reiner Unfug, wie gesagt, dummes Denken, wie es sich auch in der Idee ausgibt, die Existenz der DDR habe den Kapitalismus im Westen zu humanisieren geholfen und jetzt darf er sein Teufelsgesicht offen zeigen.

Schließlich zeichnet den gegenwärtigen Zeitgeist tiefe Bildungsfrömmigkeit aus. Den Kulturheroen wird zu ihren Jubiläen ebenso wie zwischendurch artig Lobpreis und Aufmerksamkeit gespendet, Mozart und Benn und Schiller und Humboldt, es sind ja genug da; die scharfe Beobachtung eines dieser Heiligen, Walter Benjamins, jedes Zeugnis der Kultur sei zugleich eines der Barbarei, fehlt im Kanon, denn dieser Frömmigkeit zufolge macht ja jedes Zeugnis der Kultur – die den Amerikanern bekanntlich abgeht – friedlich und frei und tolerant. Kultur bietet die integrale Therapie (zu der es die Religion leider nicht mehr schafft).

Kultur, wenn wir uns ihr richtig hingäben, könnte uns dem Satan entreißen, dem uns tagtäglich das Wirtschaftsleben unterwirft. Geld, Steuergeld, dient direkt einer anderen, besseren Welt – jedenfalls gelingt es den Kulturschaffenden immer wieder, ihre eigenen finanziellen Interessen als eine Form des gnostischen Engagements darzustellen, ohne dass jemand lacht oder protestiert. – So – wie der Fernsehmoderator sagt –, mehr als fünf Elemente des gegenwärtigen Zeitgeists fallen mir im Moment nicht ein. Vielleicht haben Sie noch Vorschläge?