piwik no script img

Archiv-Artikel

Männer machen Geschichte

AUDIOTOUREN Was war los auf Marlene Dietrichs Beerdigung, wo lebte die Kommune 1? Hörspaziergänge boomen. Die besseren zeigen, dass Geschichte widersprüchlich ist. Der Rest vermittelt veraltete Geschichtsbilder

Es ist einfacher, dem Käufer einer Audio-Tour die Bauweise des Sony Centers zu erklären als das Zusammenwachsen von Ost- und Westberlin in den 1990ern. Das eine kann man sehen, das andere muss man glauben

VON CLEMENS TANGERDING

Das Grab von Marlene Dietrich ist schlicht. Auf dem Grabstein steht „Marlene“ ohne Nachnamen, als ob hier nicht sie selbst, sondern ihr Mythos beerdigt sei. Die Backsteinmauern des Friedenauer Friedhofs umgeben die Gräberreihen wie eine schützende Hand. Lärm abhalten müssen sie nicht, denn in Friedenau ist es still. Der Berliner Künstler Wolfgang Müller erinnert sich an den Tod von Marlene Dietrich im Jahr 1992. Eine große Gruppe von Westberlinern hätte sich damals gegen eine offizielle Gedenkfeier für die Schauspielerin ausgesprochen.

Dietrich hatte Anfang der 1930er Jahre ihrer Geburtsstadt Berlin den Rücken gekehrt und 1939 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen. Wenige Wochen nach Dietrichs Tod fanden Wahlen zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen statt. Die Kommunalpolitiker fürchteten den Einfluss der „kalten Krieger“, erzählt Müller. Also verhinderten sie die offizielle Ehrung der Schauspielerin. „Über diesen Opportunismus haben sich so viele Leute geärgert, dass plötzlich so eine Stimmung entstand: Wir gehen zur Beerdigung von Marlene Dietrich. Es war die bizarrste, bunteste und verrückteste Beerdigung, die ich bislang erlebt hatte“, erzählt der Künstler.

Die Erinnerungen von Wolfgang Müller höre ich über meinen Kopfhörer. Sie werden während eines Stadtspaziergangs eingeblendet, den das Unternehmen „Stadt im Ohr“ anbietet. Die Touren kommen ohne Stadtführer aus. Sie laufen vom Band. Für den Hörspaziergang in Friedenau muss man sich ein kleines Abspielgerät in einem Café ausleihen.

Der Mann im Ohr bittet mich darum, zum Hauptausgang zu gehen. Wo ist der noch mal? Ach ja, da vorne. Der Sprecher erzählt vom Komponisten Ferruccio Busoni, an dessen Grab ich gleich vorbeilaufen werde. Moment, war das gerade nicht das Grab von Helmut Newton? Wie auch immer. Hier also liegt Busoni begraben, der sich nicht mit Ganz- und Halbtönen zufriedengeben wollte und Zwischentöne erfand. Allerdings sei die Umsetzung in hörbare Töne daran gescheitert, dass es noch keine Musikinstrumente gab, die Vierteltöne spielen konnten. Ich frage mich, wie ein Klavier nach Plänen von Busoni wohl aussehen würde. Da fordert mich mein Stadtführer auf, die Straße zu überqueren. Aber „bitte an der Ampel.“ Ja, Mama.

Nicht ohne Dom

Allein für Berlin gibt es ein gutes Dutzend Stadtspaziergänge. Für einige Touren muss man sich ein Abspielgerät ausleihen, andere bieten die Stadttouren zum Herunterladen an. Die Preise liegen bei rund 7 Euro. Das Angebot hat sich in den vergangenen fünf Jahren in etwa verdoppelt. Die meisten Audiotouren tummeln sich in Berlins Mitte und schicken die Hörer zu denselben Orten, an denen sich auch die real existierenden Stadtführer und ihre Besuchergruppen gern aufhalten. Ohne Brandenburger Tor, Berliner Dom und Potsdamer Platz, aber auch ohne das Mahnmal für die ermordeten Juden kommt keine der Audiotouren aus.

Mein Stadtführer bittet mich, in die Niedstraße einzubiegen und zum Haus mit der Nummer 14 zu gehen. Hier wohnte Uwe Johnson, gleich daneben Günter Grass. In die Wohnung des ersten zogen, als der Schriftsteller in New York weilte, 1967 die ersten Kommunarden ein. Hier wollten sie frei zusammenwohnen und das überholte Konstrukt der Familie überwinden, wie die damalige Bewohnerin Dorothea Ridder erzählt. Zum Besuch des US-amerikanischen Vizepräsidenten Hubert H. Humphrey planten sie eine Protestaktion. Diese wurde von den Geheimdiensten maßlos überschätzt und ging als Puddingattentat in die Geschichte ein. Von der angeblichen Bedrohung berichteten die Zeitungen weltweit. Auch Uwe Johnson erfuhr von den Plänen, die in seiner Wohnung geschmiedet worden waren. Empört bat er seinen Berliner Nachbarn Günter Grass darum, die Kommunarden aus seiner Wohnung fortzujagen.

So kam es, dass die Kommune nach Charlottenburg umsiedelte. Darüber würde ich gern mit einem Freund sprechen. Man kann die Hybris der Geheimdienste lächerlich finden. Allerdings wurde vier Jahre vorher Kennedy auf offener Straße erschossen. Da darf man doch nervös sein. Ich möchte darüber mit jemandem reden. Aber ich stehe allein in der Niedstraße und soll auch schon weiterlaufen. Noch vier Stationen.

Das Bedürfnis, mich auszutauschen, hält sich bei den übrigen Touren in Grenzen. Die Geschichten, die ich höre, sind allesamt sehr informativ. Aber die Beschreibungen verlaufen fast immer nach demselben Strickmuster: Es werden Könige oder Regierende als Auftraggeber genannt, anschließend die ausführenden Architekten vorgestellt und abschließend noch niedliche Anekdoten zum Besten gegeben. Das Geschichtsbild, das dabei transportiert wird, erinnert an den Ausspruch des preußischen Historikers Heinrich von Treitschke: „Männer machen Geschichte.“ Die Bevölkerung wird zum Rezipienten oder gar Bewunderer der Schöpfer und ihrer Werke degradiert.

Beispielhaft ist dies bei den Hörstücken zum Potsdamer Platz zu spüren. Die trostlose Brache, so lassen sich die Darstellungen zusammenfassen, verwandelten Unternehmen wie Daimler-Benz und der Stararchitekt Renzo Piano in einen der lebendigsten Orte der Stadt. Alles scheint nach oben, dem Fortschritt entgegenzustreben. Es fällt kein Wort über den Verkauf eines Areals an die Daimler-Benz AG, den der Senat nach der Wiedervereinigung flugs einfädelte. Auch die Veräußerung des Grundstücks samt Immobilien von Daimler an einen schwedischen Finanzdienstleister im Jahr 2007 bleibt unerwähnt. Gegen beide Vorgänge hatte es heftige und teilweise gut begründete Proteste gegeben, die in der Tour nicht erwähnt werden. Die Anbieter der Hörspaziergänge müssten auf die Beschreibung der eindrucksvollen Architektur nicht verzichten. Sie könnten den Zuhörern aber häufiger das Werkzeug zum Fragen stellen und Kritik üben in die Hand geben. Ob sich die Autoren darüber im Klaren sind, dass sie Geschichtsbilder vermitteln?

Die meisten Anbieter der Touren fühlen sich anscheinend zur politischen Neutralität verpflichtet. Häufig sind es erst die Berichte von Zeitzeugen, die den Geschichten ihre Glattheit nehmen und die Widersprüchlichkeiten zurückgeben, aus denen sie entstanden sind. Wolfgang Thierse zum Beispiel erinnert sich für die Berlin-Mitte-Führung des Unternehmens „Globe 2 go“ an die Enttäuschung des Architekten Sir Norman Foster darüber, dass eine Bundestagsmehrheit ihn dazu zwang, eine Kuppel auf das Reichstagsgebäude zu setzen. „Jetzt tut er so, als sei er immer dafür gewesen und als sei die Kuppel das Selbstverständlichste der Welt“, so der ehemalige Bundestagspräsident.

Gegen die Selbstverständlichkeit des Sichtbaren ist schwer anzukommen. Die Audiotouren wollen wie ein lebender Stadtführer mit dem Finger auf etwas zeigen und es dann erklären. Das bringt mit sich, dass den Zuhörern Bauwerke und Plätze vorgestellt werden, keine sozialen Prozesse. Es ist einfacher, dem Käufer der Audiotour die Bauweise des Sony Centers zu erklären als das Zusammenwachsen von Ost- und Westberlin in den 1990ern. Das eine kann man sehen, das andere muss man glauben. Dadurch bleibt viel auf der Strecke: Keiner leidet, keiner hat verloren, keiner ist benachteiligt. Auf zur nächsten Station.

Zucht und Ordnung

Die letzte Station auf meiner Tour des Anbieters „Stadt im Ohr“ führt mich vor die Friedrich-Bergius-Schule. Schulleiter Michael Rudolph, so klärt mich mein Audioführer auf, wurde von einigen Zeitungen als „strengster Schulleiter Berlins“ betitelt. Wer nicht pünktlich zum Unterricht erscheint, darf den Klassenraum nicht mehr betreten und muss bis zum Beginn der nächsten Stunde dem Hausmeister helfen. Die Schule stand vor dem Amtsantritt des neuen Rektors aus Mangel an Anmeldungen vor dem Aus. Seitdem Zucht und Ordnung herrschen, stehen die Eltern Schlange. Dies ist umso interessanter, als Friedenau in den 1970er Jahren für den Hang seiner Bewohner zur Selbstfindung stadtbekannt war. Noch heute ist die Bandbreite an Therapiemöglichkeiten, die einem beim Rundgang durch das Viertel auf den Klingelschildern begegnen, bemerkenswert. Ein langjähriger Friedenauer versucht das Nebeneinander von Rektor Rudolph und Psychotherapie-Praxen zu erklären: „Wir sind links, aber wir leben konservativ.“ Die Autoren dieser Tour wissen: Geschichte steckt voller Widersprüchlichkeiten, und die können sogar ganz amüsant sein.