: Der lange Schatten der dreißigtausend
In der Nacht vom 23. auf den 24. März 1976 putschten in Argentinien die Militärs, 30.000 Menschen „verschwanden“. Nach Aufhebung der Amnestiegesetze wird jetzt neu ermittelt. Das Gedenken zum Jahrestag spaltet die Menschenrechtsbewegung
AUS BUENOS AIRES JÜRGEN VOGT
Hat Néstor Kirchner noch eine Überraschung parat? Der Präsident werde zum 30. Jahrestag des argentinischen Militärputsches die Begnadigungen der Militärs aus der Menem-Ära per Dekret aufheben, lautet ein Gerücht, das sich umso hartnäckiger hält, je weniger aus dem Präsidentenpalast darüber nach außen dringt, was Kirchner am morgigen 24. März vorhat.
Vor einer Woche erst überraschte der Präsident seine Landsleute mit der Initiative für einen neuen Feiertag, den der Kongress auch sofort beschloss: Ab sofort ist der 24. März als „Nationaler Tag der Erinnerung für Wahrheit und Gerechtigkeit“ ein arbeitsfreier Feiertag.
Am 24. März 1976 putschte in Argentinien das Militär. 1983 mussten die Generäle ihre Macht nach dem verlorenen Falkland/Malvinen-Krieg gegen Großbritannien abgeben. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 30.000 Verhafteten bzw. Verschwundenen während der Diktatur.
An der Feiertagsfrage spalten sich die Menschenrechtsorganisationen: Die große Mehrzahl spricht sich vehement dagegen aus. Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel: „Wir wollen, dass die Menschen in die Schulen, die Universitäten und die Betriebe gehen. Dort sollen sie sich erinnern und gemeinsam diskutieren. Wir wollen kein verlängertes Wochenende für den Kurzurlaub.“ Mehr als 270 Organisationen haben sich im Bündnis „30 Jahre Putsch – 30.000 Verhaftete/Verschwundene presentes“ zusammengeschlossen. Darunter die Gründerlinie der Mütter der Plaza de Mayo und Pérez Esquivels' Servicio Paz y Justicia. Unter dem zentralen Motto „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit – Nein zur Straflosigkeit der Vergangenheit und der Gegenwart – Nein zum Imperialismus“ finden bis zum kommenden Freitag landesweit rund 100 Veranstaltungen statt. Höhepunkt ist der Demonstrationszug am Freitag vom Kongress zur Plaza de Mayo vor den Präsidentenpalast.
Wenn die Demonstration die Plaza erreicht, hat die Asociación Madres de Plaza de Mayo mit ihrer Vorsitzenden Hebe de Bonafini den Platz bereits wieder verlassen. Die Mütter um Bonafini unterstützen nicht nur den Präsidenten, sondern auch den Feiertag: „Es ist ein Tag der Trauer und der Erinnerung. Die Kinder an den Schulen werden fragen: Warum ist der 24. März ein Gedenktag?, und das Zentrum der Hauptstadt wird voll sein“, sagt Mercedes Meraño. Ihre Vorsitzende hatte schon vor Wochen erklärt, der Feind sitze nicht mehr in der Regierung. Und so demonstrieren sie am 30. Jahrestag auf einer eigenen Veranstaltung von heute Abend bis morgen Früh mit Reden, Rockbands, Filmen vom Putsch und der Diktatur auf zwei Großleinwänden auf der Plaza de Mayo.
Der Präsident hat derweil öffentlich große Plakate kleben lassen. Sie machen auf die Menschenrechtsverletzungen und die Prozesse gegen die verantwortlichen Militärs aufmerksam. Hier kann Kirchner Erfolge vorweisen. Die rechtliche Grundlage hat sich in den letzten drei Jahren komplett gewandelt: Am 25. August 2003 annullierte der Senat die beiden Amnestiegesetze, die auf Druck der Militärs in den Jahren 1986 und 1987 in Kraft gesetzt worden waren und ihnen weitestgehende Straflosigkeit zusicherten. Im Juni 2005 bestätigte der Oberste Gerichtshof die Aufhebung der beiden Gesetze. Die Amnestie, die der damalige Präsident Carlos Menem 1990 den wenigen wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilten Militärs gewährte, besteht jedoch weiterhin.
Nach Angaben von Gastón Chillier, Exekutivdirektor der Menschenrechtsorganisation CELS, sind gegenwärtig etwa 230 Militärs in Haft oder stehen unter Hausarrest. In 1.004 Verfahren wird gegen circa 500 Militärs ermittelt. Einige Verfahren haben bereits begonnen. „Kindesraub war bisher der einzige Straftatbestand, der von den Amnestiegesetzen nicht abgedeckt war. Jetzt kann gegen die verantwortlichen Militärs wieder wegen Verbrechen gegen die Menschenrechte, wie Entführung, Verschwindenlassen, Folter und illegale Festnahme, ermittelt werden“, so Gastón Chillier.
„In einigen Fällen erwarten wir dieses Jahr, dass der ehemalige Chef der Junta, Jorge Videla, der ehemalige Oberbefehlshaber der Marine, Emilio Massera, und Kapitän Alfredo Astiz vor Gericht erscheinen müssen“, so Chillier. Und weiter: „Wir sehen das nicht nur als Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern auch im Sinne einer Konsolidierung des Rechtsstaates, der demokratischen Institutionen und der Menschenrechte.“