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Archiv-Artikel

Der Mann, der hinter den Tschador blickt

Der Zeichner Turhan Selçuk kritisiert seit über 60 Jahren gesellschaftliche Missstände in der Türkei. Auch vor religiösen Motiven schreckt er nicht zurück. Die Ausstellung „Jenseits der Propaganda“ würdigt jetzt das Lebenswerk des 84-jährigen Istanbulers

von CIGDEM AKYOL

Eine Frau, die einen schwarzen Tschador trägt. Ihre Haare, ihr Gesicht, ihr gesamter Körper sind mit dem Kleidungsstück strenggläubiger Muslime verdeckt. Lediglich die Augen sind zu sehen – und ihre nackten Brüste. Eine waghalsige Zeichnung, wenn man an die jüngsten Ausschreitungen zurückdenkt, die durch zwölf Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung entfacht wurden.

Turhan Selçuk zeichnete die entblößte Muslimin schon vor 20 Jahren. Die Zeichnung löste damals keinen „Kampf der Kulturen“ aus. Der Türke lacht über den Vorwurf, die islamische Welt mit seinen Karikaturen provozieren zu wollen. „Meine Zeichnungen sind stärker als die Anklagen der fanatischen Muslime“, sagt Selçuk, der auch Muslim ist und in Istanbul lebt.

Ab heute werden 50 seiner gesellschaftskritischen Karikaturen aus 50 Jahren im Art Center in der Friedrichstraße gezeigt. Titel: „Jenseits der Propaganda“. Bereits seit seinem neunzehnten Lebensjahr karikiert der heute 84-Jährige neben der türkischen Politik auch die gesellschaftlichen Ereignisse seiner Heimat. Er gilt als Erfinder der modernen türkischen Karikatur.

Mit Tinte, Bleistift und Pinsel zeichnet er gegen politische Missstände, gegen Benachteiligung und Unterdrückung, gegen Korruption und Diktatoren an. Eines der ausgestellten Bilder zeigt eine zeichnende Hand, die von einer dicken Panzerkette gefesselt wird. „Mein Beruf ist nicht der ungefährlichste in der Türkei“, sagt er und erzählt von Drohungen und Gerichtsklagen, die er ständig erhalte. „Das gehört nun mal dazu“, meint Selçuk und lacht.

Er lässt sich von solch unangenehmen Geschehnissen nicht abhalten, den religiösen Fundamentalismus einiger Islamisten zu kommentieren. Bereits vor 20 Jahren zeichnete Selçuk einen gläubigen Muslim, der mit einer Gebetskette in der Hand auf einem Hochstuhl hockt und auf die Welt herabschaut. Aber auch der Altmeister kann sich der aktuellen Diskussion, wie weit eine Karikatur gehen darf, nicht verschließen. Wo endet die Freiheit des Zeichners, und wo beginnt der Schutz der Karikierten?

Obwohl Selçuk auch vor religiösen Befindlichkeiten nicht Halt macht, betont er, dass der Prophet Mohammed stets von seinem künstlerischem Spott verschont blieb. „Ich kenne die islamische Welt“, erzählt er. „Deswegen respektiere ich die religiösen Glaubensbilder der Muslime.“ Trotzdem rechtfertigten die dänischen Zeichnungen keine Gewaltausbrüche. Die dänischen Zeichnungen findet er auch handwerklich schwach. „Ich hätte das besser gekonnt“, meint der alte Mann schmunzelnd und fügt hinzu: „Etwas mehr Humor und Gelassenheit auf beiden Seiten könnten auf jeden Fall nicht schaden.“

Turhan Selçuk beweist, dass Muslime auch über sich selbst lachen können und dass Satire in den islamischen Ländern sehr wohl verbreitet ist. Seine Werke repräsentieren allerdings nicht nur die islamische Gesellschaft. Eines seiner Bilder zeigt die New Yorker Freiheitsstatue. Doch sie wird nicht als das Symbol des „American dream“ dargestellt, im Gegenteil: Auf seinem Bild ist eine Friedenstaube zu sehen, die tot in den Kronenzacken der Freiheitsstatue hängt.

„Jenseits der Propaganda –Karikaturen von Turhan Selçuk“ im Art Center Berlin, Friedrichstraße 134. Die kostenlose Ausstellung ist bis zum 7. Mai täglich von 11.00 bis 21.00 Uhr geöffnet.