: Von Beichten und Sexlügen
Die baden-württembergische SPD-Spitzenkandidatin Ute Vogt „gesteht“ vor der Landtagswahl eine Orgasmuslüge. Die „Bild“-Zeitung führt sie prompt vor. Wie naiv darf eine Politikerin eigentlich sein?
VON BARBARA DRIBBUSCH
Nur mal ein kleines Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Sie sind SPD-Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl am Sonntag in Baden-Württemberg und wollen den amtierenden CDU-Ministerpräsidenten ablösen. Ein privater Radiosender lädt Sie ins Studio ein, zu einem Polittalk. Danach kommen zwei ModeratorInnen ins Studio, schließen Sie an einen „Lügendetektor“ an und stellen Ihnen ein paar Fragen, zum Beispiel: „Haben Sie schon mal einen Orgasmus vorgetäuscht?“ Was tun Sie?
Okay, werden Sie jetzt sagen, ich stehe natürlich auf, sage höflich in die Runde „ich gehe wohl lieber“ und verlasse den Raum. Ja, das würden Sie tun. Ute Vogt, SPD-Spitzenkandidatin in Baden-Württemberg, hat etwas anderes getan. Sie hat auf die Frage, ob sie schon mal beim Sex einen Orgasmus vorgetäuscht habe, geantwortet: „Ja“, mit dem Nachsatz: „Das ist schon länger her.“
Vom Sender Antenne 1 in Stuttgart – Motto: „Mehr Abwechslung mit den größten Hits für Baden-Württemberg“ – hin zur Bild-Zeitung war nur ein kurzer Weg, zumal beide zum Springer-Konzern gehören. „Erste Politikerin beichtet Orgasmus-Lüge“, schlagzeilte darauf Bild gestern auf Seite 1 und textete genüsslich: „von wegen Politiker reden ungern über ihr Privatleben … Drei Tage vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg überrascht die SPD-Spitzenkandidatin Ute Vogt (41) mit einer freizügigen Beichte …“
Dass eine SPD-Spitzenkandidatin bei Millionen Bild-LeserInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen für morgendliches Gewieher sorgt, könnte man eigentlich als lustig betrachten. Bloß nicht moralisch werden. Orgasmuslüge! Wo doch angeblich 80 Prozent der Frauen schon mal in ihrem Leben einen Orgasmus vorgetäuscht haben. Aber ganz so lustig ist es dann doch nicht.
Bemerkenswert ist zum Beispiel der Unterschied zwischen den Radiofragen, die den anderen männlichen Spitzenkandidaten gestellt wurden und den Erkundigungen bei Ute Vogt. „Hat sich Günther Oettinger schon mal geprügelt?“, fragte der Sender laut eigener Homepage den CDU-Spitzenkandidaten. Hoho, prügeln! Ein richtiger Kerl! Ein Alphatier!
Bei Winfried Kretschmann, dem baden-württembergischen Kandidaten von Bündnis 90/Die Grünen erkundigten sich die Radiowitzbolde, ob er „schon einmal gekifft habe“. Hihi, die Grünen und Kiffen! Wir erinnern uns an Bill Clinton: „I didn’t inhale!“ FDP-Spitzenkraft Ulrich Groll wurde gefragt, ob er „schon einmal blau gemacht habe“. Niedlich.
Aber bei einer 41-jährigen SPD-Spitzenfrau, nun, da muss schon ein bisschen Körper ran, am besten Sex. Gekoppelt mit einem gehörigen Schuss Erniedrigung. Einen Höhepunkt vortäuschen, das machen Frauen, damit der Kerl sie nicht als frigide betrachtet und wegläuft, Verliererinnen also. Einen Höhepunkt faken übrigens auch manchmal Prostituierte, damit der Kunde schneller fertig ist.
In Bild muss noch eine angebliche „Beichte“ daraus werden. Etwas gestehen, etwas beichten, das ist ein Unterwerfungsritual. Wer etwas „gesteht“, entblößt sich und begibt sich damit in eine demutsvolle Situation. Auf diesem Prinzip beruhen die nachmittäglichen Talkshows, in denen die auftretenden Facharbeiter, Geschiedenen, Hausfrauen und Erwerbslosen etwas möglichst Intimes aus ihrem Leben erzählen. Erst diese Selbstdemütigung macht sie für ein Millionenpublikum interessant, während die KandidatInnen selbst die millionenfache Vervielfältigung der eigenen Person via Fernsehen als Kick erleben.
Wenn Bild die SPD-Spitzenfrau jetzt kurz vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg vor einem Millionenpublikum in diese Position der angeblich „Sex-Beichtenden“ zwingt, macht sie Ute Vogt lächerlich. Wer will so jemanden wählen? Jemanden, der sich nicht vor den Erniedrigungen der Boulevardmedien schützen kann, sondern sich ihnen freiwillig ausliefert?
Ute Vogt sei „überrumpelt“ worden von den intimen Fragen, verlautete gestern aus ihrem Umfeld zu dem Radiointerview, das gestern früh gesendet wurde. Sie betrachte den Vorgang als „unerheblich“, sagt der Sprecher des SPD-Landesbüros in Stuttgart. Das allerdings stimmt nicht so ganz.
Da Vogt die Befragung im Radiosender nicht abbrach, drängt sich der Verdacht auf, dass sie in einem Moment der Fehleinschätzung vielleicht geglaubt hat, so ein flapsiges Interview nütze tatsächlich ihrer Popularität, ließe sie als freizügige, volksnahe SPD-Frau dastehen. So naiv im Umgang mit den Medien darf man aber nicht sein. Wir leben nun mal nicht in einer Welt, in der auch männliche Spitzenpolitiker gefragt werden, wann sie mal impotent waren bei einer Frau im Bett. Spätestens jetzt dürfte auch Ute Vogt das kapiert haben.