: Ein Garten für Valentina
THERAPIE Zuerst saß sie nur still in der Ecke. Dann wollte sie nur Gemüse anpflanzen. Die Blumen haben sie schließlich aus der Einsamkeit geholt
AUS KAPELLEN KIRSTEN KÜPPERS
Als die alte Frau aus Kasachstan mit dem grell geblümten Polyesterkleid und den langen hellgrauen Haaren schief und schweigend vor ihr stand, holte Margret Wilmer tief Luft. Wilmer ist Angestellte des Beschäftigungsbereichs in St. Bernardin, einer Wohnanlage für geistig und körperlich behinderte Menschen. Es war das erste Mal, dass sie die neue Bewohnerin sah, und eine Kollegin hatte sie schon vorgewarnt: „Die kann gar nix!“
Margret Wilmer nimmt solche Informationen für gewöhnlich gelassen. Sie ist eine robuste 52-Jährige mit praktischer Frisur, stabil und humorvoll. Zudem arbeitet sie schon so viele Jahre in der Werkhalle von St. Bernardin, dass sie nur wenig in Erstaunen versetzen kann.
St. Bernardin liegt in Kapellen am Niederrhein, fast an der niederländischen Grenze. 130 behinderte Menschen leben hier: Die alte Sigrid kurvt mit dem Kettcar über das Gelände oder schiebt einen Puppenwagen durch die Flure. Anita stellt auch im Sommer alle Heizkörper an. Und zum Tischgebet beim Mittagessen brüllt Marlene das „Gelobt sei Jesus Christus“ durch den Raum, als gelte es, den Herrgott selbst vom Himmel zu rufen. Oft kommt es vor, dass irgendwer mit eckigen Schritten auf Margret Wilmer zuläuft, ihr unvermittelt über die Haare streichelt oder den Kopf auf ihre Schulter legt. Jeder ist sein eigenes Universum, und wenn Wilmer nicht aufpasst, drehen die Zivis die Musik so laut, dass die Hörgeräte der älteren Bewohner pfeifen.
Der schwierige Anfang in der Wohnanlage
Aber als diese alte Frau Reimche im bunten Kleid nun vor ihr stand und sie anstierte, ahnte Margret Wilmer schon, dass hier eine neue Herausforderung ihres Arbeitsalltags der Behindertenhilfe zu bestehen war.
Vier Jahre ist es her, dass sie Valentina Reimche das erste Mal gesehen hat. 70 Jahre ist Reimche jetzt alt. Es war ein langer Weg. Margret Wilmer hätte damals nicht gedacht, dass der Anfang so schwierig werden würde. Sie hätte nicht gedacht, dass die Lösung so einfach sein könnte. Keiner hätte gedacht, dass am Ende ein Garten rauskommt.
„Nu ja, wat is?“, fragt Valentina Reimche, sie steht draußen im Gras, lacht und plappert. Man kann sie schlecht verstehen. Sie spricht das rostige Deutsch der Russlanddeutschen, ein altmodischer Singsang mit russischen Einsprengseln, dazu verschluckt sie ganze Wörter, reißt oft nur einzelne Silben an. Die Ärzte wissen nicht, ob das von der Behinderung kommt, vom Alter oder mangelnden Deutschkenntnissen. Reimche stapft voraus über den Rasen, sie redet einfach weiter. Immer noch trägt sie am liebsten knallige Farben. Unter der blauen Strickjacke leuchten ein orangefarbener Pullover und eine braune Hose. Aber sie winkt und kichert, ihr grauer Pferdeschwanz weht im Wind.
Eine Menge ist passiert seit damals. Man kann sagen: Die Dinge sind in Bewegung geraten. Und das ist schon ziemlich bemerkenswert. Denn für eine gewisse Zeit war Valentina Reimche der Welt fast abhandengekommen. Eine Zeit lang war sie nur eine alte Frau, die teilnahmslos ihre Tage im Behindertenheim absaß. Es schien, als hätte sie sich in irgendeinem dunklen Tunnel ihres Selbsts verkrochen. Still und mürrisch, ohne weitere Regung.
Es hat gedauert. Inzwischen hat Valentina Reimche zurückgefunden ins Dasein, inzwischen läuft sie über den Rasen der Wohnanlage und ruft: „Mich g’fallt alles.“ Dazu brauchte es keine Psychopharmaka.
Und da kann man schon sehen, was ein Garten bringen kann. Wie er die Menschen verändert. Bei Reimche reichten dafür ein paar struppige Beete, ein Gartenschlauch und Blumensamen. Das weiß man erst jetzt.
Tatsächlich war es so, dass Margret Wilmer und die anderen Kollegen lange rätselten, was sie mit Reimche anstellen sollten. Was sie wussten, gab nicht viel her. In der Akte stand, dass Reimche am 6. März 1940 in dem kleinen Ort Ksenewka in der Ukraine als Jüngste von vier Geschwistern geboren worden war. Bald war die deutschstämmige Familie nach Kasachstan deportiert worden. Die Geschwister starben noch im Kindesalter an den Folgen der Deportation. Mehr als fünf Jahrzehnte später kam Reimche mit ihrer Mutter nach Deutschland. Die Mutter starb 2005. Nur die paar Daten, zu wenig, als dass damit ein ganzes Leben beschrieben werden könnte – genug, um eine Menge an zugeschüttetem Schmerz vermuten zu lassen. „Mama hat doch die Augen zu“, erklärt Reimche, wenn man sie fragt.
Die inneren Rollläden waren runtergelassen
Margret Wilmer konnte sich erinnern, Reimche und ihre Mutter früher oft gesehen zu haben, damals in den Neunzigern. Im Nachbarort Issum war das, wo die beiden seit ihrer Ankunft in Deutschland gelebt hatten. Mutter und Tochter hatten bunte Kopftücher und lange Mäntel getragen und die Mülltonnen durchwühlt. Nicht aus Not, sondern weil die Deutschen zu viel Brauchbares wegwarfen, wie sie sagten. Der Befund der Ärzte bescheinigt Valentina Reimche „eine mittelgradige Intelligenzminderung mit geringfügigen Verhaltensauffälligkeiten“ und „eine Einschränkung der Teilhabe an der Gesellschaft“. Kein körperliches Leid, eher das Fehlen von etwas, das einen Menschen in Beziehung treten lässt.
Es schien, als hätte Valentina Reimche seit ihrem Eintreffen in St. Bernardin ihre inneren Rollläden runtergelassen. Als hinge sie im Dunkel fest und fände den Ausgang nicht. Reimche schwieg, saß lustlos auf einem Stuhl und schaute gegen die Wand. „Hock ich, guck ich“, sagt Reimche heute, wenn sie von damals erzählt.
Jeden Tag saß sie so in der Werkhalle. Margret Wilmer fand heraus, dass Reimche Knöpfe annähen konnte und auch bei anderen Handarbeiten geschickt war. Ansonsten blieb sie allein und in sich gekehrt. Besserung war nicht in Sicht. Man kann annehmen, dass Margret Wilmer sich in dieser Zeit besonders häufig mit rasselndem Husten für eine Zigarette vor die Tür der Werkhalle verzogen hat. Das macht sie immer, wenn sie einen Moment zum Nachdenken braucht. Wilmer wusste nicht weiter.
Es war Frühling, als die Sache mit Valentina Reimche eine Wendung nahm.
Im Frühjahr 2008 kam eine Umweltpädagogin vom örtlichen Naturschutzzentrum vorbei. Die Umweltpädagogin wollte ein paar ungenutzte Beete auf dem Gelände vor der Werkhalle bewirtschaften. Gemeinsam mit den Bewohnern. „Als Möglichkeit, Natur intensiv zu erleben“, erklärte die Frau. Es ist eine Idee, die in die Zeit passt. Die Eintönigkeit des Alltags wird mit einer Samenpackung „Sommerblumenmischung“ bekämpft. Jeden Mittwoch sollte die neue Gartengruppe sich treffen.
Valentina Reimche war nicht begeistert von der Idee. Sie hatte keine Lust auf einen Garten. „Raboti, raboti!“, jammerte sie. Arbeiten, arbeiten. Die Beete sahen braun aus und schmutzig, oben stand welkes Unkraut, die Erde war voller Steine.
Als Margret Wilmer an einem Mittwoch die Blumen aussäte, fragte Reimche skeptisch: „Wofir is gutt?“ Sie hätte lieber Kartoffeln und Kohl gepflanzt. Es zeigte sich, dass Reimche etwas konnte. „Mir ham immer gesät Kraut. Ich hab abgeroppt, ein’kocht.“ Reimche wusste, was zu tun war. Dass man einen Garten umgraben muss – und gießen, wenn die Erde trocken ist. Sie zog sich eine Strickjacke über, einen geblümten Rock, Sandalen und ging an die Arbeit. Andere Mitglieder der Gartengruppe guckten, warteten ab. Manche, wie der grauhaarige Peter, blieben einfach mit der Schaufel in der Hand stehen. „Das muss man doch machen, ja nu! Bisch noch jung. Stellst hin, wollst nich bücken!“, trieb Reimche ihn an.
Es sah gut aus. Die alte Frau aus Kasachstan war in Fahrt gekommen, sie hatte etwas zu tun, sie ging bald nicht nur mittwochs raus zu den Beeten.
Ihr Argwohn blieb.
Als die Gartengruppe die ersten Basilikumblätter erntete, war Reimche von der Ausbeute enttäuscht. Sie fing wieder an von den Kartoffeln, vom Kohl, den sie hätten anpflanzen sollen, sie lief die Beete entlang, zeigte vorwurfsvoll auf die Lavendelbüsche, die Ringelblumen, sie hörte nicht auf.
Lächelnd steht sie zwischen den Pflanzen
Es war dann so, dass sie etwas herstellen mussten. Erst als Margret Wilmer mit den Kräutern einen Quark für das Abendessen anrührte, gab Reimche Ruhe. „Alles muss einen Nutzen haben“, erklärt Wilmer. „Wenn etwas nur schön aussieht oder einfach nur gut riecht, hat es für Valentina Reimche keinen Wert.“ Dann „ist fir die Hunde“, wie Reimche sagt.
Deswegen verarbeiten sie jetzt alles weiter. Die Gartengruppe mischt Kräutersalz, Bärlauchpesto, Duftsäckchen, Kräuteressig und Ringelblumensalbe. Sogar einen eigenen Kräuterschnaps haben sie gebraut. Wenn Margret Wilmer davon erzählt, zieht sie den Mund nach unten, so schlimm schmeckt er: „Boah! Der ist nicht lecker.“ Trotzdem hat sich der Schnaps auf dem Herbstbasar gut verkauft. „Glaub mir, viele Flaschen, alle weg!“, meint Reimche, sie wirft die Arme hoch und grinst.
Überhaupt hat sich der Garten schnell entwickelt. Die Blumen schossen hoch, Zierkürbisse wucherten, der Rosmarin duftete. Sogar Schulklassen und Kindergartengruppen kamen vorbei, um die neuen Beete zu besichtigen. Es gibt viele Fotos von den vergangenen beiden Gartenjahren, Margret Wilmer hat sie an zwei Stellwände im Eingangsbereich von St. Bernardin gepinnt. Die Bilder zeigen viel Grün, viele Blüten. Manchmal steht Valentina zwischen den Pflanzen und lächelt. Ob aus Stolz oder Schüchternheit, kann man auf den Fotos nicht erkennen.
Aber eben beim Rundgang über das Gelände hat Valentina Reimche die Primeln im Blumenkasten gestreichelt. Und jetzt beim Mittagessen im Aufenthaltsraum sitzt sie am Tisch und erzählt von der „Spickrigkeit“ der Brennnesseln, von den „Cosmeen, die gebliht haben so scheen“. Sie scheint sich mit den Blumen abgefunden zu haben. Es riecht nach Kantine, ihr Tischnachbar Peter schweigt und schiebt in Zeitlupe Ravioli auf eine Gabel. Reimche erzählt weiter, sie ist jetzt irgendwo bei den Sauerampferpflanzen in Kasachstan angelangt.
Man kann sie schlecht verstehen. Sie redet in einem fort. Die Beine lässt sie baumeln, sie lacht wie ein Mädchen. Und da wird schon deutlich, dass Valentina Reimche doch weit herausgetreten ist aus ihrem inneren Rückzugsgebiet.
Noch immer ist unklar, was genau mit ihr los war vorher. Sehnsucht nach Kasachstan. Trauer um die Mutter. Bestimmt hat sie sich nicht wohl gefühlt in der Wohnanlage, wo sich die Türen auf Knopfdruck öffnen, wo jede Mahlzeit geregelt und wo jede Langeweile sofort mit einer Sendung im Nachmittagsfernsehen abgestellt werden kann. Wahrscheinlich hilft es, wenn man an grünen Blättern zupfen kann, an etwas Lebendigem. Valentina sitzt am Tisch, die Sonne scheint ihr ins Gesicht, sie kann es nicht sagen. Ihr Tischnachbar Peter ist eingeschlafen. Reimche schaukelt mit dem Kopf und fragt: „Bist noch hier oder schon weg?“
Die Erste am Gartenschlauch
Solche Zeichen sind es jedenfalls, die sie in St. Bernardin als eine Art Gesundwerdung interpretieren: dass Reimche angefangen hat zu reden mit den anderen, dass sie ihr ganzes Schlafzimmer mit pastellfarbenen Kunstblumen dekoriert hat. Dass sie nicht mehr nur Gemüse anbauen will. Dass sie mitkommt, wenn Margret Wilmer in den Baumarkt Samen kaufen fährt. Unterwegs zeigt sie aus dem Autofenster auf knospende Kirschbäume, schreit: „Wie scheen!“ Sie ist immer die Erste, die am Gartenschlauch steht. Manchmal spritzt sie mit der „Schlange“, wie sie den Schlauch nennt, den Rest der Gartengruppe nass. Sie macht Witze über die Trägheit der anderen Bewohner. Wenn sich jemand bückt, klopft sie ihm aufs Hinterteil – solche Sachen.
Manchmal müssen sie Reimche jetzt mittwochs zwingen, eine Pause zu machen. Reimche fragt dann: „Müd? Na, von was?“