Aberwitzige Umarmungen

TANZ IM AUGUST Der Choreograf Emanuel Gat fusioniert ein Hörspiel und die Goldberg-Variationen von Glenn Gould: „The Goldlandbergs“ macht sogar den Tastsinn sichtbar

Ein Knäuel Menschen wälzt sich, mit den Armen wider jede Logik verbunden, quer über die Bühne. Dann ein Paartanz, der gelingt, obwohl beide Tänzer ganz verschiedene Bewegungen in stark voneinander abweichenden Rhythmen ausführen und jeder um sein Gleichgewicht ringt

VON FRANZISKA BUHRE

Die Geschichte der Goldberg-Variationen im Tanz des 20. Jahrhunderts beginnt mit altem Wein in neuen Schläuchen: der Choreograf Jerome Robbins, mit der „West Side Story“ zu Weltruhm gelangt, kreiert 1971 zur Musik Bachs ein klassisches Ballett. Dafür nutzt er nicht die unerhörte, gleichwohl berühmte Aufnahme der Variationen von Glenn Gould aus dem Jahr 1955, sondern die wohlgestaltete eines zeitgenössischen Klaviervirtuosen.

Gould selbst hatte längst andere Wege eingeschlagen. Der eigenwillige kanadische Pianist spielt seit Jahren nicht mehr vor Publikum und begibt sich im August 1971 in die Provinz Manitoba, um Tonaufnahmen in einer Mennoniten-Gemeinde zu machen. „The Quiet in the Land“, das letzte Hörspiel seiner „Solitude Trilogy“, wird ihn sechs Jahre beschäftigen. Aus Interviews, Aufnahmen von Gottesdiensten, Fieldrecordings, Fetzen klassischer Musik und Janis Joplins „Mercedes Benz“-Song montiert er ein komplexes Klanggewebe, aus dem die Sprechenden als stellvertretende Stimmen des Autors zum Hörer dringen.

In diesen vielstimmigen Gould nun blendet der zeitgenössische Choreograf Emanuel Gat dessen Goldberg-Variationen von 1981 ein und lässt sie wieder verklingen – das Hörspiel und die Musik scheinen sich gegenseitig zu strukturieren. Für die acht Tänzer der Kompanie von Emanuel Gat entsteht so ein akustischer Raum, den sie sich, allein auf sich gestellt, erschließen.

Keine Requisiten, an denen es sich im Verlauf der Aufführung abzuarbeiten gilt, keine Gassen, die Sichtschutz vor dem Publikum bieten, nicht einmal Kleidungsstücke, die entkleidende Blicke auf Abstand halten – in Slips, Socken und dünnen Unterhemden der drei Tänzerinnen wird jede Regung sichtbar. Umso elektrisierender wirkt jeder Kontakt mit den Handflächen. Wie die Tanzenden einander berühren, ist so atemberaubend wie unvermutet. Kaum findet eine Hand den weichen Untergrund eines anderen Rückens, schließen sich weitere flüchtige Berührungsimpulse an, werden Regionen des Körpers zu Wendepunkten einer Bewegungssequenz mit gänzlich anderem Verlauf. Hände spüren den Konturen der eigenen Glieder und ihren Fluchtpunkten in den Gelenken nach, um in Reichweite neue Gebilde in den Raum zu formen. Die Hand im Nacken des Gegenübers ist keine Drohgebärde, sondern schlicht die kleinste gemeinsame Fläche, um das Terrain der Begegnung zu erweitern. Wenn zwei Tänzer gleichzeitig ihr eigenes Bewegungsziel verfolgen und nach der Berührung des Partners streben, entstehen die aberwitzigsten Umarmungen.

In einer exemplarischen Szene wälzt sich ein Knäuel Menschen, mit den Armen wider jede Logik verbunden, quer über die Bühne. In einer anderen gelingt ein Paartanz, obwohl beide ganz verschiedene Bewegungen in stark voneinander abweichenden Rhythmen ausführen und jeder um sein Gleichgewicht ringt. Dazu perlen die Goldberg-Variationen aus den Lautsprechern und fluten den grauen Tanzteppich gelbe Lichtwolken in schöner Unregelmäßigkeit. Während das Hörspiel die ersten Szenen minutenlang orchestriert, übernimmt kaum merklich die Musik das Geschehen.

Die Mehrstimmigkeit wechselt einfach den Modus: hatte man den menschlichen Stimmen zu Anfang noch Sinngehalt abzulauschen versucht, blendet Emanuel Gat ihren Klangwert hinüber in das mehrstimmige Klavierspiel. Auf diese Weise öffnet sich den Tänzern ein sinnlicher Bewegungsspielraum, wird ihr Anblick zum sinnlichen Erlebnis. Ein Tänzer schlüpft in die freien Winkel hinein, die ihm ein anderer Körper anbietet, als sei er in vertrauter Umgebung. Eine Tänzerin beschreitet behutsam den Rücken eines Liegenden, kniet auf ihm oder bedeckt ihn mit der eigenen Haut. Selten macht den an sich unsichtbaren Tastsinn jemand im zeitgenössischen Tanz so explizit zum wiederkehrenden Motiv wie Emanuel Gat.

Ein Bild davon konnte man sich auch in Gats begleitender Ausstellung „It’s people, how abstract can it get?“ machen, für die im Haus der Berliner Festspiele die Seitenbühne zu einem dunklen Schrein verwandelt wurde. Von elf Bildflächen leuchten Haut, Muskeln, Staturen der Tänzer. Gat hat sie während der Proben zu „The Goldlandbergs“ fotografiert – einzeln, verschlungen oder in flüchtigen Berührungen. Die Bilder zeigen verletzliche Stadien zwischen Halt und Verlust von Gleichgewicht, Suchen und Zaudern. Auf dem Weg zur Vielstimmigkeit ist die Kompanie zusammengewachsen.