: Ein allzu gerundetes Leben
BIOGRAFIE Wo bleibt der Klassiker der Ahnungen und Verstörungen? Rüdiger Safranski schreibt ein neues dickes Buch über Johann Wolfgang von Goethe und verharmlost ihn darin
VON EBERHARD GEISLER
Der Verlagsprospekt kündigt Anspruchsvolles an: Safranski will neues Licht auf Goethe werfen. Der erfolgreiche Biograf hat sich diesmal also an den Olympier der deutschen Literatur gewagt. Die Grundthese seines Buches ist einfach: der Klassiker wollte nicht nur in der Dichtung Hervorragendes leisten, sondern sein Leben selbst zum Kunstwerk erheben. Hat er es nicht selbst als Kompliment erachtet, dass ein Jugendfreund meinte, er lebe besser, als er schreibe?
Und so zeichnet Safranski materialreich die Geschichte eines wohlbehüteten, mit künstlerischen und Verstandesgaben überreich gesegneten Sohnes aus bürgerlichem Hause nach, dem alles zufliegt: die Literatur, die Sympathie schöner und kluger Frauen, die Hingabe der Mädchen, die Freundschaft der bedeutendsten Schriftsteller der Zeit. Wohin er kommt, wird er zum Mittelpunkt der Gesellschaft. Er hat eine unvergleichliche Gabe, sich immer wieder zu häuten und zu verjüngen, etwa wenn er die Tagesgeschäfte als Minister in Weimar verlässt, um nach Italien zu reisen, um wieder in Anonymität, Kunst und Erotik zu tauchen. Mit dem „Werther“ löst er ein diskursives Ereignis aus: es kommt zu einer „Deregulierung des Redens in der Öffentlichkeit“; man getraut sich mit einem Mal, frei über das Verhältnis der Geschlechter, Seelisches, Ästhetisches und Politisches zu sprechen, ähnlich wie in der Studentenrevolte von 68.
Es ist insgesamt eine Epoche, in der die Autoren Starkult erfahren und sich selbst inszenieren müssen. In der „Iphigenie“ wird die Spannung dieses Lebens deutlich: politischen Geschäften nachzugehen und doch die Idee von Humanität und Reinheit zu wahren. Neben diesem Entwurf eines gelingenden Lebens skizziert Safranski auch die umfassenden intellektuellen Auseinandersetzungen der Zeit, in die Goethe tief involviert war, etwa die Rezeption Spinozas, Lavaters und Fichtes.
Ein informatives, durchaus lesenswertes Buch zweifellos, und trotzdem ist hier nur ein Schattenriss entstanden und kein Relief. Safranski scheint vom Gedanken eines gemeisterten, gut eingerichteten Lebens derart angetan, dass er selbst eine Prosa sucht, die niemals in Stocken gerät, die gleichmäßig, Satz für Satz, fließt und sich nacherzählend am Glück der hergestellten Gegenwart labt. Will er bei einem Glas Wein gelesen werden, vorm beständig knisternden Kamin? Aber wäre es nicht darauf angekommen, statt Goethes Werk nur zu zitieren und als Beleg zu nutzen, es zu befragen und die Einsicht ernster zu nehmen, dass sich diese Texte durchaus auch dem Mangel stellen und sich in ihnen keineswegs immer alles zu einem Ganzen rundet?
Pathos der Tätigkeit
Gewiss: Goethe hat den scheuen Hölderlin verständnislos abgekanzelt, hat ihm das Schreiben naiver idyllischer Verse empfohlen und war für die Ausmaße von dessen denkerischem Projekt, das mit einzigartiger Konsequenz zur Zerrüttung von Sprache und Geist führen sollte, blind. Breit steht sein Haus am Frauenplan, Monument des Behagens, sich gleichzeitig im Zentrum der bürgerlichen wie der feudalen Gesellschaft behauptend, mit all seinen Sammlungen von Büchern, Skulpturen, Zeichnungen, Gemälden und Mineralien Sinnbild einer rastlosen, in der deutschen Kultur einmaligen Tätigkeit des Erfassens von Welt und der Vergegenwärtigung.
Das aus der Renaissance stammende Pathos der Tätigkeit führt Goethe zu höchster Vollendung. „Wer immer strebend sich bemüht …“ Und doch müssen wir sehen, dass er zugleich ein Autor tiefer Ahnungen und mitten in der Geschäftigkeit offen für Verstörung ist. Bekannt ist, dass er gerne den rätselhaften lateinischen Satz zitierte: „Nemo contra Deum nisi Deus ipse“ – Niemand wider Gott, wenn nicht Gott selbst. Goethe hat sich darauf beschränkt, von diesem Satz als einer Ungeheuerlichkeit zu sprechen, und sich ansonsten in Schweigen gehüllt, aber er muss geahnt haben, dass es hier um nichts weniger als die Erkenntnis ging, dass die abendländische Metaphysik immer schon ihr eigenes Fundament unterwandert.
Muss man den Satz nicht in letzter Konsequenz dahingehend interpretieren, dass das Göttliche selbst schon von einer Spaltung durchzogen ist, die dieses als Absolutes aufheben will? Von derlei Blicken unseres Lebenstrunkenen in den Abgrund bei Safranski aber kein Wort. Oder auch des Dichters außerordentliche Intuition, von Calderóns zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland wiederentdecktem Werk gerade die „Tochter der Luft“ hochzuschätzen und damit zielsicher das heidnischste, aus moderner Sicht wohl bedeutendste Stück des spanischen Dramatikers herauszugreifen.
Calderón zeigt in diesem Werk ein entfesseltes Begehren nach Sexualität und Macht, lässt Individualität hinter die Gewalt intersubjektiver Strukturen zurücktreten, ist besessen von Dreiecksverhältnissen, von Spiegelung, Verkehrung und finaler Verstümmelung des Körpers. Goethe beschreibt das Stück als einzige Abfolge von Ballettschritten, bewundert an ihm das genuin Theatralische und trifft sich darin mit den Romantikern, die ähnlich von dem subjektfernen Inszenieren des Spaniers fasziniert waren.
Ist es nicht dieser Goethe, von dem wir gerne mehr erfahren hätten? Und was ist mit „Wilhelm Meister“, dem Roman, den Friedrich Schlegel als Paradebeispiel der von ihm anvisierten romantischen Universalpoesie apostrophieren sollte? Goethe hat die Romantik wohl als Krankheit bezeichnet und sich den Brüdern Schlegel distanziert gegenüber geäußert, aber dann doch selber einen Roman geschrieben, der die romantischen Ideale eines in sich selbst aufgebrochenen Werkes, einer Mischung unterschiedlicher Genres, eines Wechselspiels von Poesie und Reflexion realisiert.
Damit hat er Teil am Projekt der Moderne, immer eindringlicher den Verlust des Zentrums zu denken. Ein Ur-Ei gibt es nicht, hat Friedrich Schlegel formuliert und sich in seinen Fragmenten einer Konzeption der Ellipse und der Verdopplung zugewandt, den zeitgenössischen Dekonstruktivismus vorwegnehmend. Goethe ist luzider, als dass er nur das Leben als Kunstwerk sucht.
Die Denkmöglichkeiten
Schließlich die „Wahlverwandtschaften“, vom Autor selbst hoch geschätzt und nach Überzeugung verständiger Kritik tatsächlich sein bestes Buch. Safranski registriert zwar die Einsicht des Dichters in die Notwendigkeit erotischer Entsagung, erfasst aber nicht die Radikalität des hier entworfenen Verzichts, obwohl er doch selbst die Bemerkung Goethes zitiert, er habe große Geheimnisse in dieses Buch gelegt. Mit der Einsicht, dass im Liebesleben nicht alles Ersehnte Gegenwart werden kann, geht hier, wie die jüngere Forschung gezeigt hat, eine Erschütterung von Präsenz überhaupt einher.
Als Ottilie mit dem im doppelten Ehebruch gezeugten Kind im Kahn den See befährt, fällt ihr nicht nur das Kind ins Wasser, sondern auch das Buch, in dessen Lektüre sie so tief versunken war. Als sie Eduard zum Schluss noch einmal schreibt, dann nur, um ihren Entschluss mitzuteilen, fortan in Schweigen zu verharren. Lesbarkeit und Sinn, Sprechen selber stehen hier auf dem Spiel, sind bedroht und erlöschen. Ähnlich wie Beethoven sich in den späten Streichquartetten eine eigene Moderne schuf, so ragt Goethe mit diesem Roman weit über seine eigene Zeit hinaus.
Safranski, der Biograf von Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger, geübter Nacherzähler von Philosophien, bleibt dem großen Dichter gegenüber also ohne eigentlichen philosophischen Gedanken. Kunstwerk des Lebens? Schön und gut. Das erfasst etwas an Goethe und gleitet doch gleichzeitig an ihm ab. Denn wenn wir uns ernsthaft in die Schriften vertiefen, müssen wir uns denkerisch mit etwas auseinandersetzen, was immer wieder das stolze Gebäude am Frauenplan sprengt, das der Dichter so gerne bewohnt hat.
Nacherzählen ist ein ernstes, ehrenwertes Unterfangen, aber es sollte nicht zu schnell darauf vertrauen, dass sich überhaupt ein Leben und ein Werk nacherzählen und vergegenwärtigen lässt. Möglicherweise ist am Wunsch nach Vergegenwärtigung nämlich selbst etwas Falsches; möglicherweise muss man sich der Einsicht stellen, dass das Überlieferte stets beherzt in neue Kontexte zu verpflanzen ist, in denen es zu uns spricht, ohne mehr die Sehnsucht nach einer ursprünglichen, einzigen Wahrheit zu stillen. Ebendies ist hier versäumt worden. Kein neuer Goethe also, der heutigen Denkmöglichkeiten entspräche.
■ Rüdiger Safranski: „Goethe. Kunstwerk des Lebens“. Hanser Verlag, München 2013, 752 Seiten, 27,90 Euro