: Jurke arbeitet einfach weiter
Thomas Jurke ist ein Macher. Anpacken und alles selber machen hat er noch in der DDR gelernt. Jurke macht einen Plan. Und noch einen. Wie lange noch?
AUS AURITH TINA VEIHELMANN
Es herrscht Schneetreiben, ein Scheißwetter. Flocken fliegen Jurke ins Gesicht, er wischt sie sich nicht aus den Augen, denn er hat keine Hand frei. Jurke arbeitet. Mit rot gefrorenen Händen steht er über seinen Gabelstapler gebeugt. Der ist kaputt. Hinter ihm steht das Eisentor zu seiner Werkstatt einen Spaltbreit offen, damit er das Radio hört. Drinnen stehen seine Maschinen: Sägen für Holz, Hobel für Holz, Traktoren. Jurke hat sie in zwei Farben gestrichen: Grün und Orange. Orange steht für Energie. Grün ist der Wald, und grün ist die Hoffnung.
„Hoffnung – pah!“, sagt Jurke und spuckt eine Schneeflocke aus, die ihm in den Mund geflogen ist. Er hatte einmal jede Menge Hoffnung. Dann hat er den „Scheißkredit“ nicht bekommen, „weil es die Bande von Wirtschaft und Politik einen Dreck interessiert, was einer allein in Brandenburg probiert“. Aber das heißt nicht, dass er die Hoffnung aufgeben hätte, verdammt. Jurke flucht, über die blöde Bande oder über die blöden Schneeflocken, man weiß es nicht. Er zieht eine Schraube fest. Schrauben, Muttern, sämtliche Ersatzteile muss Jurke nie kaufen, er hat sie selbst, aus alten Maschinen ausgebaut. „Man muss clever sein“, sagt er immer. Wer clever ist, schafft es. Das ist sein Wahlspruch.
Thomas Jurke kommt aus Eisenhüttenstadt, einer sterbenden Stadt. Früher hat sie von ihrem Stahlwerk gelebt, jetzt ist in Hüttenstadt Totentanz. Viele sind in den Westen gegangen, Jurke wollte bleiben. „Dem Jurke sagt keiner, wo er hinzugehen hat“, poltert er gegen den Eiswind an. Er hat Forstwirt gelernt, aber er kann viel mehr, sagt er. Als Junge schon hat er kleine Maschinen gebaut. Später hat er Trabis repariert und Geräte gebastelt, die man nirgendwo kaufen konnte. Am Tag war er im Wald, am Abend hat er weitergeackert, für sich selbst. „Ich kann alles“, sagt er. Dächer decken, mauern, Möbel schreinern, fast alles reparieren, was aus Metall besteht und einen Motor hat. „Und ich habe immer schon Farben gemocht. Farben machen aus Alt Neu.“
„Aus Alt mach Neu“, denkt Jurke auch, als er 1996 im nahen Dörfchen Aurith einen leeren Kuhstall entdeckt, den er für eine Mark kauft. Es ist ein LPG-Relikt, in dem einmal 80 Rinder gestanden haben. Jetzt ist der Stall öd und oll und riecht nicht mal mehr nach Mist. Jurke ist 34 Jahre alt und steckt voll Energie. Er hat Forstwirt gemacht, dann Industriemontage und jetzt Stahlwerk in Hüttenstadt. Aber das Werk raucht aus dem letzten Hochofen, einer nach dem anderen wird entlassen, das hat man gar nicht in der Hand. Jurke hat die Schnauze voll. Er will was Eigenes machen. Ein Geschäft gründen. Eine Kunstschmiede schwebt ihm vor, Metallarbeiten, sein Jugendtraum. Der alte Kuhstall, denkt Jurke, braucht nur einen Anstrich, dann wird er seine Werkstatt sein. 200 Quadratmeter groß, im Grünen, und dahinter fließt die Oder.
Jurke reißt Fäkalrinnen und Futterkrippen aus seinen neuen Geschäftsräumen, gießt einen neuen Fußboden und renoviert. Als er gerade fertig ist, kommt die „Jahrhundertflut“, und Aurith samt Jurkes Stall gehen im schmutzigen Oderwasser unter. Als Einziger im Dorf bekommt er keine Abfindung, weil er auf seinem „Hof“ nicht gemeldet ist, er wohnt ja in Eisenhüttenstadt.
Jurke renoviert von vorn. Er stellt einen Wohnwagen vor den Stall, um dort schlafen zu können, er malert, zieht Wände ein und treibt Maschinen für die Werkstatt auf – auch das hat er zu DDR-Zeiten gelernt. Er hat jede Menge Bekannte und weiß immer, wo man was bekommt. Schweißgeräte, Bohrmaschinen und Fräsen besorgt er aus Firmeninsolvenzen. Er arbeitet jetzt fast die ganze Zeit. Seinen Blaumann, den er schon früher oft getragen hat, zieht er nun überhaupt nicht mehr aus. Seine Frau reicht irgendwann die Scheidung ein, weil sie ihren Mann nicht mehr zu Gesicht bekommt. Jurke arbeitet weiter. Dennoch – es läuft nicht recht. „Zu wenig Aufträge“, sagt er. „Zu viel Konkurrenz aus Polen.“ Er überlegt hin und her, und schließlich legt er seinen Plan auf Eis.
Das Jahrtausend geht zu Ende, ein neues bricht an, Jurke feiert jetzt öfter Feten in seinem Stall. Bekannte hat er ja genug, Platz auch. Irgendwann kommt das Finanzamt und will eine Steuernachzahlung, weil man der Meinung ist, Jurke betreibe unangemeldet ein Gewerbe. Er bezahlt direkt aus der Barkasse. Es ist ihm egal. Jurke braucht einen neuen Plan.
Es ist Frühling geworden. Neben Jurkes Stall nistet ein Storch auf einem Strommast. Jurke ist guter Dinge. Er sitzt in kurzen Hosen vor seinem Wohnwagen und isst Selchfleisch mit Salzkartoffeln. Er hat eine neue Freundin gefunden: Christine, eine fröhliche Sächsin mit blond gesträhntem Haar. Sie lädt ihm eine Portion Fleisch auf den Teller. „Der Thomas ist ein Viech“, sagt sie. „Der muss viel essen, damit er ordentlich arbeiten kann.“ Christine ist ein Jahr älter als Jurke. Sie ist gut zu hören, wenn sie spricht, sie muss auch laut sein, wenn sie gegen ihn ankommen will. Als gelernte Wirtschaftskauffrau kann sie „geschäftsmäßig denken“, wie ihr neuer Freund es nennt, und hat seine ungebändigte Energie in vernünftige Bahnen gelenkt. „Brandenburgs Wälder liegen voller Holz“, erklärt Jurke, während er Fleisch spachtelt. Ihr neues, gemeinsames Konzept. „Man kann kaum mehr laufen vor lauter Holz, seit keiner mehr Forstwirte bezahlt.“ Dieses Holz wird er aus den Wäldern holen und Paletten daraus machen – nicht grob genagelt, sondern akkurat gezimmert, mit einer Stahlschablone, die er selbst gefertigt hat. „Für eine Palette brauche ich eine Minute“, sagt er. „Ich bin schneller und billiger als die Konkurrenz aus Polen.“ Christine häuft Kartoffeln nach. „Der Thomas ist eine Maschine“, sagt sie. „Und den Plan mache ich.“
Christine schreibt einen Businessplan. Diesmal ist alles genau kalkuliert. Um „Jurkes Forst- und Sägewerkservice“ mit drei Arbeitsplätzen zu gründen, benötigen sie 50.000 Euro Kredit, um eine moderne „Blockbandsäge“ und zwei robuste Traktoren zu kaufen. Mehr brauchen sie nicht. Sie haben Jurkes Zeit pro Palette mit einer Stoppuhr gemessen, Arbeitsproben gesägt und von Eisenhüttenstädter Firmen schriftliche Zusagen für Aufträge eingeholt. Mit diesen Unterlagen geht Christine in schickem Kostüm zur Bank.
Die Sache zieht sich hin. Jurke feiert seinen vierzigsten Geburtstag, unterdessen kommen Briefe bei ihm an, in denen die Banken absagen: „Zu wenig Sicherheiten“, heißt es. Jurke und Christine haben zu wenig Geld – und sie benötigen zu wenig Geld. „In Brandenburg gehen Sägewerke Pleite“, sagt man zu Christine, und sie kann dem Herrn im Anzug nicht klar machen, dass ihr Freund eine Maschine ist. Die beiden lernen etwas Wichtiges, aber Ungutes über die Welt. Für die Bank bedeutet das Nein zu Jurkes Sägewerk nichts. Für Jurke bedeutet es alles. Das Ende.
„Doch wer denkt, Jurke gibt auf, der kennt den Jurke nicht“, sagt Jurke und holt aus seiner Werkstatt einen Berg Schreibkram. Christine und er haben Briefe geschrieben. An die Bürgschaftsbank in Potsdam, an Brandenburgs Arbeitsminister Junghans, an die Industrie- und Handelskammer. Das Büro Junghans emphiehlt ihm daraufhin ein „DTA Startgeld“ für Kleinunternehmer oder ein „Mikrodarlehen“. Doch die hat er alle schon abgegrast. Die Antwort ist und bleibt: zu wenig Sicherheiten.
Nun bekommt Jurke immer stärker den Drang, „seine eigene Sicherheit selbst zu sein. Und sonst gar nichts.“ Er baut eine Säge mit Schiebetisch und automatischem Vorschub selbst. Er zerlegt zwei kaputte Traktoren und macht einen neuen daraus. Er übernimmt Aufträge, alles, was kommt. Aber ohne die effektive Säge, das hat Christine kalkuliert, sind keine großen Gewinne zu machen. „Kein Grund, aufzugeben, verdammt.“ Jurke will so lange arbeiten, bis er seine Traumsäge bei den Polen kaufen kann. Christine macht eine Extraqualifizierung für weibliche Geschäftsgründerinnen mit. Sie lernt Polnisch, damit man besser verhandeln kann. Es wird Herbst und Winter und Sommer und wieder Herbst.
Jurke trinkt jetzt öfter sein Bier allein in seiner Werkstatt, weil er seine Ruhe haben will. Er hat seinen Wohnwagen so ausgebaut, dass er zur Not dort wohnen kann, mit Fernsehen und Video und einem Stromaggregat, das von einem Windrad angetrieben wird. Er hat Schafe und Gänse angeschafft, damit er notfalls was zu essen hat. Das Federvieh geht in Angriffsstellung, wenn ein Fremder kommt. Hals vor, Schnabel auf. Chrrrrr.
Wenn der Gabelstapler kaputtgeht, repariert Jurke ihn draußen auf dem Hof, weil er Bewegungsfreiheit braucht. Davon hält ihn kein Schneetreiben ab. Die Aurither lächeln über ihn, wie der da in der Kälte steht und ackert. Jurke ist es egal. „Vielleicht mache ich was Neues“, sagt er. „Autos mit Holzvergasermotoren – die fahren nicht mit Benzin, das eh keiner mehr bezahlen kann, sondern mit Holz.“ Das müsste der Renner sein, erklärt er, denn seit kein Förster mehr aufräumt, liegen Brandenburgs Wälder ja voller Holz. Man sammelt es ein und ist unabhängig. An der Tankstelle fährt man einfach vorbei. Und die ganze Bande in Wirtschaft und Politik bringt man so um die Steuern. „Ich brauche nur noch ’nen Geldgeber“, sagt er, lacht bitter und holt ein Bier. „Oder ich mache Windmühlen. Oder ich gehe nach Dubai. Dann können die mich mal von hinten sehen.“
Aber eigentlich will er nicht weg. Nur manchmal hält er es einfach nicht mehr aus. Er lässt den Kronkorken ploppen, der wie ein blinkendes Geldstück über die Erde rollt und neben dem Gabelstapler liegen bleibt. Orange steht für Energie. Grün für Hoffnung. Eine Schneeflocke fliegt darauf und schmilzt. Es ist ein Scheißwetter.
TINA VEIHELMANN, 35, lebt als freie Autorin in Berlin