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Archiv-Artikel

Der Hort des großen Gähnens

Gleichgültig oder gelangweilt reagieren viele Sachsen-Anhalter auf die bevorstehende Wahl. Umso schwerer ist es, den Ausgang vorherzusagen

2002 lag die Wahlbeteiligung bei 56,5 Prozent. Diesmal könnte sie niedriger sein

DESSAU taz ■ Müde steht das Wahlvolk auf dem Markt von Dessau. Nicht einmal ein Gregor Gysi mit seinen wirkungsvoll montierten Textbausteinen vermag es zu entflammen. Beim Thema „Landtagswahl“ zucken viele Bürger teilnahmslos mit den Achseln. Nach Umfragen interessieren sich 58 Prozent von ihnen nicht für die bevorstehende Abstimmung. „Wir haben alle möglichen Parteikonstellationen schon einmal gewählt, aber geändert hat sich nicht viel“, hört man in Dessau und anderswo.

In Wittenberg hat sich die FDP mit 80 Anhängern in den Rathaussaal zurückgezogen. Guido Westerwelle preist es schon als großen Erfolg der schwarz-gelben Koalition, dass Sachsen-Anhalt im ewigen Duell mit Mecklenburg-Vorpommern einmal den letzten Platz im Ländervergleich abgeben konnte. Dieselbe FDP warb 2002 noch mit dem Slogan „Höppner geht, die Arbeit kommt!“. Der damalige SPD-Ministerpräsident ist gegangen, aber im Land gibt es jetzt 35.000 Arbeitsplätze weniger als vor vier Jahren. Finanzminister und FDP-Vorzeigekopf Karl-Heinz Paqué hat 4 Milliarden neue Schulden aufgenommen.

Die an sich präsentablen Hochschulen vor allem in Magdeburg und Halle-Wittenberg haben Kürzungen hinnehmen müssen. Ein Volksbegehren gegen die Einschränkung der Kinderbetreuung ist gescheitert. Zwei Theater mussten schließen, Musikschulen und Bibliotheken kämpfen ums Überleben. Rechte Gewalttaten haben zugenommen. Die Abwanderung hat vor allem ein junges, weibliches und gebildetes Gesicht und ist speziell bei der SPD ein Dauerthema. Frontmann Jens Bullerjahn hält das Bindestrichland für mittelfristig nicht allein lebensfähig. Er warnt angesichts zurückgehender Solidarpaktmittel vor einem Desaster, sollte die Verwaltung nicht drastisch gestrafft und die Förderung konzentriert werden.

In dieser Stimmungslage wird eine noch geringere Wahlbeteiligung als vor vier Jahren erwartet. Nur 56,5 Prozent nutzten damals ihr Stimmrecht. Auch die Spitzenpolitiker gestehen sich gegenseitig ihre beschränkten Handlungsmöglichkeiten ein, allen voran der „Landesgroßvater“ Wolfgang Böhmer von der CDU: „Ich bin nicht so überheblich, zu behaupten, dass wir die Einzigen sind, die etwas Gutes für unser Land tun können.“

Die Union hofft, wenigstens durch Personalisierung ihre Wahlchancen erhöhen zu können. „Erfahrung ist durch nichts zu ersetzen“, wirbt die CDU für den 70-jährigen Ministerpräsidenten.

Die Ernüchterung lässt sie alle unwillkürlich zusammenrücken, vor allem CDU und SPD, die wohl die nächste große Koalition in Deutschland schmieden werden. Denn eine rot-rote Liaison wie 1998–2002 hat Bullerjahn definitiv ausgeschlossen.

Die FDP hofft auf einen erneuten Last-Minute-Effekt. In keinem anderen Bundesland war Wahlprognosen bislang so wenig zu trauen wie in Sachsen-Anhalt. Darauf setzen die Grünen mit ihrem unbekümmert-frischen Wahlkampf, aber auch die nationalkonservative DVU, die die Fünfprozenthürde doch noch zu überspringen hofft.

MICHAEL BARTSCH