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Archiv-Artikel

The time is out of joint

Mit Zitaten aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“: Michael Leinert inszeniert die Ambroise Thomas Version an der Rheinoper

Bändigung und Freisetzung des Barbarischen

AUS DÜSSELDORFFRIEDER REININGHAUS

Ambroise Thomas? Selbst notorischen Musikfreunden dürfte dieser einstige Großmeister der französischen Oper nur noch durch die Goethe-Adaption „Mignon“ ein Begriff sein, die er 1866 an der Opéra-Comique in Paris herausbrachte, wo der aus Metz stammende Musiker drei Jahrzehnte zuvor als Geiger am Théâtre des Vaudevilles angefangen hatte. Als Opernkomponist stand er hörbar in unmittelbarer Nachfolge von Giacomo Meyerbeer und D.F.E. Auber, nach dessen Tod im Jahr 1871 er auch folgerichtig an die Spitze des Conservatoire aufrückte.

Die meist sorgfältig oder sogar raffiniert instrumentierte Theatermusik von Thomas wurde zu unterschiedlichen Zeiten sehr unterschiedlich rezipiert: für die Zeitgenossen war sie mit dem wohldosierten Mischungsverhältnis von pompösem und kantablem Ton, von Sentimentalität und Eleganz, von effektiven Chor- und Tanzszenen ein „Triumph der französischen Oper“. Der hatte Vorbildfunktion: das griffigste Thema in Antonín Dvoráks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ z.B. findet sich als Horn-Solo kurz nach Beginn von „Hamlet“ deutlich vorgezeichnet. Doch das Grandios-Üppige wie das „Süffige“ dieser kunstfertig durchgestalteten Oper war dann neusachlich gestimmten Generationen eine Anfechtung. Die Werke von Thomas wurden insgesamt weitgehend von den Bühnen verbannt. Heute kann man sie ohne sonderliche Erregung als zeitbedingte Erscheinungen und mit ihrer weithin doch sehr differenziert gestalteten und feinsinnigen Musik wahrnehmen (selten sind die Effekte so grell wie beim mittleren Verdi) – und gerade das „Graziöse“, das Wohlproportionierte und Moderate mag wieder auf offene Ohren stoßen.

Lange genoss Shakespeares „Hamlet“ als „Blut- und Ekel-Theater“ auf dem europäischen Kontinent keinen guten Ruf. Insbesondere bei den Franzosen tat sich dieses englische „Charakterdrama“ schwer. Als die deutsche Intelligenz sich bereits für Leben, Schwanken und Sterben des Prinzen von Dänemark begeisterte, gab Voltaire ein vernichtendes Urteil über dieses Drama ab: es sei ein „rohes und barbarisches Stück, das in Frankreich oder Italien selbst beim gemeinsten Pöbel keinen Anklang finden würde“. Doch sogar auf der Opernbühne hatte die „rohe“ und schreckliche Geschichte bereits Gestalt angenommen - allerdings in stark gemilderter und geschönter Form als „Ambleto“ – sowohl mit Musik von Francesco Gasparini wie auch von Domenico Scarlatti.

Auch in Frankreich tummelten sich entschärfte Fassungen auf den Bühnen, z.B. eine klassizistische Version von Jean-François Ducis, die ebenfalls „Anstößiges“ - wie die Friedhofsszene - eliminierte und die Handlung auf die Hauptpersonen konzentriert. Erst als Charles Kemble mit einer reisenden englischen Truppe in Paris Sensation machte und als Alexandre Dumas d.Ä. zusammen mit Paul Meurice das Original recht getreu für das Théâtre Historique adaptierte, war die Bahn bereitet. Erst recht, als Charles Gounod 1859 mit seinem „Faust“ als opera comique herauskam und unter Beweis stellte, dass die clevere Reduktion eines so großen und sperrigen Stoffs auf dem Musiktheater doch „funktionieren“ konnte. Nach Giuseppe Verdis frühen Schiller- und Shakespeare-Opern war die Zeit offensichtlich „reif“ für die Anwendung des großen Arsenals der Grand Opéra auf das Stück, das eine aus den Fugen geratene politisch-familiäre Situation um den Prinzen Hamlet zuspitzte. Bemerkenswert ist, dass und wie sehr das Libretto von Michel Carré und Jules Barbier ihre Textvorlage wieder Shakespeares Original angenähert haben (mit Ausnahme des gattungsspezifischen Schlusses, der den Titelhelden nicht durch eine vergiftete Degenspitze zu Tode, sondern unter „Hoch“-Rufen auf Dänemarks Thron kommen ließ). Mit Marlies Petersen (als Ophelia mit grandioser Wahnsinns-Arie) sowie Jeanne Piland als ehebrecherischer und mörderischer Königin stehen der Deutschen Oper am Rhein zwei darstellerisch brillierende Sängerinnen für die sinnvolle und appetitanregende Erinnerung an den abgesunkenen Kontinent Hamlet zu Verfügung. Alexander Joel leistet insgesamt präzise Arbeit am Dirigentenpult (freilich fehlt den Düsseldorfer Symphonikern eine Handbreit zur Perfektion). Tassis Christoyannis erscheint in der Titelpartie als vorzüglicher Bariton und durchgängig phantastischer Sängerdarsteller: durch ihn vor allem nimmt die existentielle Wucht der Tragödie Gestalt an und wird der durch die Kostümierung deutlich hervorgehobene Generationen-Konflikt im Hause Dänemark zur Grundsatzfrage nach dem richtigen Leben im falschen.

Bühne und Inszenierung von Michael Leinert blieben ein Kompromiss. Da wurden klassizistische Säulen, wie sie für das französische 19. Jahrhundert noch charakteristisch waren, als Rahmen aufgestellt und ein wenig Mobiliar aus der Belle epoque (bis hin zum braun marmorierten Tafelklavier rechts und dem Regal mit Totenköpfen zur Linken). In den Hohlräumen zwischen diesen aus dem Fundus zusammengeklaubten Ausstattungsstücken erzählt die Handlung mit den sichtbar modernisierten Protagonisten sauber-konventionell - und erweist dem Stück dadurch einen guten Dienst. Um anzudeuten, dass gerade auch bei einer zwiespältigen Oper wie dieser Kontexte der Moderne mitzudenken sind, zeigen sich immer wieder markante Zitate aus Heiner Müllers „Hamletmaschine“ im Hintergrund und verdeutlichen, wie drastisch diese Tragödie zu nehmen ist: The time is out of joint – auch wenn dies den derzeitigen Forderungen nach einer neoklassizistischen Bändigung des Theaters zuwiderläuft.

Mi, 29. März, 19:30 Uhr,Infos: 0211-8925211